Berufungsverhandlung im „Pappnasenprozess“

Wir dokumentieren im Folgenden einen Prozessbericht von Copwatch Hamburg:
Am 10. Februar 2020 ging der Prozess gegen einen solidarischen Anwohner, der Kritik an der rassistischen und schikanösen Polizeipraxis auf St. Pauli geäußert hatte, in die zweite Runde. In erster Instanz zu 60 Tagessätzen verurteilt, hatte die Staatsanwaltschaft aber noch nicht genug und ging in Berufung. Diesmal wurde das Verfahren eingestellt. Wieder sind rund 20 Menschen gekommen, um den Prozess solidarisch und kreativ zu beobachten.

Dem Anwohner wurde vorgeworfen am 7. September 2018, einen Polizisten mit den Wort „Pappnase“ in dessen Ehre verletzt zu haben. Da der Beschuldigte, nachdem er mit einem Kopfgriff brutal zu Boden gebracht wurde, seine Muskeln angespannt haben soll, lautete die Anklage: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Bereits im ersten Prozess machte der Angeklagte deutlich, dass es im Verfahren um die rassistische Polizeipraxis auf St. Pauli und nicht etwa um die „Ehrverletzung“ des Polizisten oder den herbeigedichteten Widerstand gehen müsse. So erklärte er in seiner Stellungnahme: „Deshalb muss hier heute über Rassismus gesprochen werden. Denn Rassismus ist kein individuelles Phänomen, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das u.a. Institutionen wie Polizei und Gerichte durchzieht. Somit rekurriert polizeiliches Handeln immer auch auf ein gesamtgesellschaftlich vorhandenes rassistisches Wissen ohne, dass der einzelne Polizeibeamte zwangsläufig intentional rassistisch handelt. Und durch die rassistischen Kontrollen in St. Pauli wird eben dieses rassistische Wissen reproduziert, indem Schwarze Menschen und People of Color als gefährliche Subjekte markiert werden. Ich bleibe dabei: Ich werde mich mit den stigmatisierten Schwarzen Menschen in meiner Nachbarschaft weiter solidarisieren.“

Wir rufen dazu auf, es dem Angeklagten gleich zu tun und der rassistischen Vertreibungspraxis auf St. Pauli und anderswo konsequent zu widersprechen. Überall da wo Menschen durch die Polizei rassistisch diskriminiert und schikaniert werden, ist praktische Solidarität gefragt.

Die vollständige Prozesserklärung gibt es hier:

Hamburg,10. Februar 2020

Prozesserklärung

Am 7. September 2018 wurde eine Gruppe Polizist*innen in der St. Pauli-Hafenstrasse von einigen Personen angesprochen, die ihren Unmut über die polizeiliche Präsenz mitteilen wollten. Den Beamten wurde vorgeworfen, dass es sich bei ihrem Einsatz um eine unrechtmäßige rassistische Maßnahme handle und es letztlich nicht um die Bekämpfung der sogenannten Drogenkriminalität ginge.

Im Laufe dieser Diskussion soll Ich dabei einen Beamten mit dem Wort „Pappnase“ in seiner Ehre so tief verletzt haben, dass ich mit einem Kopfgriff zu Boden gebracht wurde, wo ein anderer Polizist mein rechtes Bein mithilfe eines Beinhebels fixierte und ich anschließend im Einsatzfahrzeug zur Wache gebracht wurde.

Ich möchte hier heute erneut darlegen, warum ich der Meinung war und bin, dass die Überprüfung meiner Personalien unrechtmäßig war und warum ich auch weiterhin den – unter dem Deckmantel der Betäubungs-mittelbekämpfung – stattfindenden rassistischen Vertreibungs-maßnahmen vor meiner Haustür entschieden widersprechen möchte. In meiner ersten Prozesserklärung habe ich bereits ausgeführt, dass ich der Überzeugung bin, dass meine brutale Festnahme wie auch die im Strafantrag geforderte Summe von 2700,00 Euro Teil der polizeilichen Einschüchterungs-maßnahmen sind, die sich in St. Pauli gegen alle jene richten, die sich mit den von der Polizei gejagten und durch anlasslose rassistische Kontrollen ständig stigmatisierten Schwarzen Menschen und People of Color in St. Pauli solidarisch erklären.

Auch die drei voll ausgerüsteten und bewaffneten Beamt*innen, die am ersten Prozesstag im Saal anwesend waren und die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft, nachdem ich in erster Instanz zu 60 Tagessätzen verurteilt wurde, in Berufung gegangen ist sprechen eine klare Sprache.

So dringend scheint es den Damen und Herren Staatsanwält*innen zu sein, hier ein deutliches Urteil zu erkämpfen, auf das in ihrer Stadt nie wieder jemand einen Polizeibeamten eine „Pappnase“ nennen werde.

Doch ich möchte hier nicht über die Ehre des Polizeibeamten Mehl sprechen, sondern über seinen Einsatzauftrag: Was taten die Beamt*innen also an jenem Abend in der St. Pauli Hafenstraße?

Sie patrouillierten vor dem Hinterhof meines Zuhauses hin und her. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf dem Hof ca. 10 Schwarze Personen, die sich nicht trauen würde das Gelände zu verlassen, solange die Polizist*innen vor Ort waren. Denn die Anwesenheit der Polizei bedeutet hier für Schwarze Personen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Personalienkontrolle. Damit gleicht das in kurzen räumlichen Abständen hin und her patrouillieren hier einem stundenlangen Freiheitsentzug. Auf dem kleinen Hinterhof gibt es keine Toilette, keine Sitzmöglichkeiten, kein Licht und kaum Möglichkeiten sich vor Wind und Wetter zu schützen.

An jenem Abend hatte ich mitbekommen, dass Einzelpersonen, aus Angst vor einer demütigenden Kontrollsituation schon über zehn Stunden den Hof nicht verlassen hatten. Diese Strategie, alle anwesenden Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus durch Dauerpräsenz am Verlassen des Geländes zu hindern ist so perfide wie sie durchschaubar ist. Als verliefe hier direkt vor meiner Haustür eine internationale Grenze wird Menschen hier der Durchgang verwehrt. Und weil ich diese Schikane als ungerecht empfinde und weil ich mir damals wünschte, dass die mir zum Teil bekannten, im Hof eingesperrten Personen endlich nach Hause hätten gehen können, habe ich die Polizist*innen an jenem Abend aufgefordert ihre Arbeit niederzulegen.

Denn mein Zuhause, St. Pauli ist ein bunter, weltoffener Stadtteil, der sich spätestens seit der Ankunft der Lampedusa Gruppe in der St. Pauli Kirche 2013 zu einem Ort der Solidarität mit Geflüchteten entwickelt hat. Dort unterstützen bis heute Netzwerke aus Betroffenen und Anwohner*innen auch jene Geflüchtete, die eben auch aufgrund ihres prekären Aufenthaltsstatus nach St. Pauli gekommen sind.

In den letzten Jahren, insbesondere seit 2016, als die sogenannte „Task Force Drogen“ ins Leben gerufen wurde, habe ich eine zunehmende Militarisierung des Stadtteils erlebt. Tagtäglich und nahezu 24/7 patrouillieren bewaffnete Polizist*innen in Uniform und in Zivil durch die Straßen St. Paulis. Ihre permanente Anwesenheit kommt einer dauerhaften Überwachung gleich. Sie kontrollieren auf Basis von Sonderbefugnissen, die durch die Konstruktion des sogenannten „gefährlichen Ortes“ ermöglicht werden. Diese Kontrollen passieren immer wieder anhand äußerer Merkmale wie der Hautfarbe und das, obwohl dieses Vorgehen von mehreren Verwaltungsgerichten als rechtswidrig eingestuft wurde. Schwarze Menschen können sich in St. Pauli nicht mehr frei im öffentlichen Raum bewegen, ohne Gefahr zu laufen einer entwürdigenden Kontrolle durch die Polizei unterzogen zu werden. Wiederholte Male wurde ich Zeuge davon, dass Schwarze Personen im Zuge einer dieser Kontrollen grundlos einen Platzverweis erhielten. Die Polizei gibt vor an diesem Ort die “öffentlich wahrnehmbare Drogenkriminalität zu bekämpfen“, was sie jedoch de facto tut, ist die Kriminalisierung Schwarzer Menschen und die Verdrängung von prekär lebenden Personen aus dem öffentlichen Raum.

Ein Freund von mir wurde hier kurze Zeit vor Heiligabend einer verdachtsunabhängigen Kontrolle unterzogen. Bei der vor Ort durchgeführten Durchsuchung wurde in seiner Tasche ein Ginseng Bonbon gefunden, das er als Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt. Da die Beamt*innen der Meinung waren, es würde sich um Heroin handeln wurde er zur Wache gebracht. Der entlastende Labortest fand erst Anfang Januar statt. Er saß 19 Tage in Untersuchungshaft.

Solche und ähnliche Geschichten über Rassismus und Polizeigewalt höre ich hier ständig. Es drängt sich mir daher zunehmend der Verdacht auf, dass die Sonderbefugnisse der Polizei an diesem Ort Tür und Tor für solche polizeiliche Willkür und rassistische und klassistische Diskriminierungen eröffnen.

Und dass der Beamte Y. vor Ort und ihrer Urteilsbegründung nach auch die Richterin G. annehmen, der Beamte Y. könne allein deswegen schon nicht rassistisch handeln, da er “ausländische Wurzeln” habe, lässt bereits einen tiefen Einblick in das hier vorherrschende Rassismusverständnis zu.

Deshalb muss hier heute über Rassismus gesprochen werden. Denn Rassismus ist kein individuelles Phänomen, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, das u.a. Institutionen wie Polizei und Gerichte durchzieht. Somit rekurriert polizeiliches Handeln immer auch auf ein gesamtgesellschaftlich vorhandenes rassistisches Wissen ohne, dass der einzelne Polizeibeamte zwangsläufig intentional rassistisch handelt. Und durch die rassistischen Kontrollen in St. Pauli wird eben dieses rassistische Wissen reproduziert, indem Schwarze Menschen und People of Color als gefährliche Subjekte markiert werden.

Ich bleibe dabei: Ich werde mich mit den stigmatisierten Schwarzen Menschen in meiner Nachbarschaft weiter solidarisieren. Die rassistischen Kontrollen in St. Pauli müssen ein Ende haben.