Verfahren gegen Hıdır Yildirim – 8. Verhandlungstag

18.10.17, Kammergericht Berlin

Anwesend: 2. Strafsenat (R1, R2, R3), StA, Verteidigung (V1, V2), Hıdır Yildirim (HY), Dolmetscher, Protokollantin, Prozessbeobachter*innen, Presse, Justizbeamt*innen

R1 eröffnet die Verhandlung für den heutigen Tag. Er verliest folgende Beschlüsse des Senats:

  1. Der Antrag der Verteidigung auf Einholung eines Gutachtens eines Sprachsachverständigen für die Sprachen Kurdisch und Türkisch wird abgelehnt.
    • Im Antrag sei nicht genannt, welche Urkunden von Übersetzungsfehlern betroffen seien
    • […]
    • Die Übersetzung der Wörter „arkadaş“ und „heval“ sei nicht von Bedeutung, da daraus kein Nachteil für den Angeklagten HY gezogen werden würde
  2. Der Widerspruch zur Verwendung des Selbstleseverfahrens bezüglich bestimmter Urkunden [unverständlich um welche Urkunden es sich handelt] wird abgelehnt […]
  3. Der Gegenvorschlag der Verteidigung betreffend die Wirksamkeit der Verfolgungsermächtigung wird zurückgewiesen
    • Der Senat habe verkannt, dass es keine Taten der PKK im Tatzeitraum gegeben habe. Für die Einordnung einer terroristischen Vereinigung sei es nicht relevant, dass es im Tatzeitraum keine Taten gebe. Vielmehr entscheidend sei, ob das Ziel der Vereinigung – das Begehen von Straftaten – bleibe. Nur wenn die Vereinigung ihre Ausrichtung ganz und nicht nur vorübergehend aufgebe, würde die Verfolgung durch § 129a+b StGB ausbleiben. Dies scheine aber bei der PKK nicht der Fall zu sein.
  4. Die Gegenvorstellung der Verteidigung gegen den Beschluss des Senats zur Besetzungsrüge wird zurückgewiesen.

Lichtbilder von HY werden in Augenschein genommen.

Die Verteidigung gibt eine bereits angekündigte Erklärung nach § 257 StPO ab: Beweismittel aus der Observation des Cem Aydin würden unter das Verwertungsverbot fallen, da es keine Verfolgungsermächtigung gegen Cem Aydin gegeben habe, da die allgemeine Verfolgungsermächtigung erst ab der Gebietsleiterebene greife. Eine Einzelverfolgungsermächtigung sei zwar möglich, habe aber nicht vorgelegen.

Der StA erklärt dazu, dass in dem konkreten Fall Gefahr im Vollzug bestanden habe wegen des Kadertreffens, weshalb es keine Verfolgungsermächtigung gegebene habe.

V2 fragt daraufhin, wie lang bereits bekannt gewesen sei, dass das Kadertreffen stattfinden sollte und ob es nicht schon vorher möglich gewesen wäre eine Verfolgungsermächtigung zu beantragen.

Die Verteidigung stellt folgende Anträge:

  1. Antrag:
    • Friedensbestrebungen seitens der PKK
      • es wird beantragt die Grußbotschaft/Erklärung von Öcalan zum Newrozfest 2013 und die Erklärung Öcalans zum Frieden in deutscher Übersetzung zu verlesen. Es wird ein Zitat aus der Newroz-Erklärung verlesen, indem es heißt, dass man an dem Punkt angelangt sei, wo die Waffen endlich schweigen sollten. Dazu erklärt die Verteidigung, dass diese Phase des Friedens weit über bisherige Waffenstillstande hinaus gegangen sei. Somit wird deutlich, dass schon lange vor der Friedensphase Friedensbestrebungen da waren.
      • Es wird weiterhin ein Zitat aus der Erklärung zum Frieden vorgelesen, welches leider nicht mitgeschrieben werden konnte. Die Verteidigung erklärt anschließend, dass HY sich laut der Anklage erst nach Newroz 2013 in der PKK betätigt habe. Zu dieser Zeit seien jedenfalls Kurd*innen in Deutschland davon ausgegangen, dass die PKK Frieden wolle.
      • bei dieser Botschaft rief Öcalan zum Frieden und der Geschwisterlichkeit (im Nahen Osten?) auf.

Der StA erklärt dazu, dass die Erklärungen bereits gerichtsbekannt seien und es nicht auf den Wortlaut der Erklärungen ankomme sondern auf die Umsetzung.

Weiterhin erklärt der StA etwas später [das Vorangegangene konnte nicht dokumentiert werden], es komme nicht auf den Interessenkonflikt an, sondern auf die Umsetzung. Der Staatsanwalt weist auf die „legitime Selbstverteidigung“ hin, bei der Gewalt ein Mittel sei

  1. Antrag
    • StPO Karlsruhe Voraussetzung der Verwertbarkeit -> Keine Übereinstimmung mit dem Original
  2. Antrag:
    • Die Verteidigung beantragt den Präsidenten des hessischen Verfassungsschutzes als Zeugen zu laden sowie jeweils einen Artikel von welt.de, heise.de, civakaazad.de, tagesschau.de als Beweis zu verlesen:
    • Der türkische Geheimdienst MIT sei in Deutschland aktiv. Der Zeuge werde bekunden, dass es viele MIT-Agenten in Deutschland gebe und dass viele in Behörden wie der Polizei und der Ausländerbehörde beschäftigt seien. Zudem bestehe eine enge Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst.
    • Der türkische Staat hat schon mehrfach „schwarze Listen“ an deutsche Behörden übergeben mit vermeintlichen Gülen- und PKK-Anhängern.Gülen-Anhänger wurden gewarnt, PKK-Anhänger dagegen nicht.
    • 40 Vereine und rund 173 Einzelpersonen wurden ausspioniert; aber auch die GÜLEN Bewegung
    • Es wurden Attentate gegen kurdische Aktivisten vorbereitet; deutsche Behörden haben kein Interesse Kurden vor MIT zu schützen; selbst wenn mit diesen Hinweisen an sie heran getreten worden ist, gab es keine Reaktion; Ein Verfahren gegen einen MIT-Agenten wurde aus unerklärlichen Gründen einfach eingestellt. Zudem gibt es den Fall von Mehmet Fatih S., welcher Mordpläne gegen 2 kurdische Aktivist*innen schmiedete und am 10.10.17 nur zu 2 Jahren Bewährung verurteilt wurde. Es gab noch den Fall von Mustafa K., welcher von kurdischen Strukturen enttarnt wurde. Die Informationen wurden an Ermittlungsbehörden weitergeleitet, aber es folgte keine Reaktion. Wie auch bei dem Fall von Sakine Canciz, Fidan Doğan und Leyla Söylemez in Paris und an dem Fall Mehmet Fatih S. zu sehen ist, sind Erdogans Männer nicht nur hier, um auszuspähen, sondern um zu morden.
    • dem Artikel von heise.de sei zu entnehmen, dass das Hauptquartier der MIT-Agenten das türkische Konsulat sei. Die Arbeit des MIT ist gut organisiert; es gibt rund 6000 Informanten, die unter anderen in Café’s, Reisebüros, Moscheen aktiv sind bzw. diese Orte nutzen. DITIB-Moscheen haben dabei eine besondere Bedeutung
    • der Artikel von civakaazad.de thematisiere den Prozessbeginn gegen Mehmet Fatih S.
    • Der Artikel von tagesschau.de handele von MIT-Agenten beim BAMF: Ein Betroffener würde darin davon berichten, dass nach seiner Anhörung beim BAMF ein regierungsnaher Journalist in der Türkei öffentlich gemacht habe, wo der Mann sich aufhalte. Vermutet werde, dass der Übersetzer als MIT-Agent Informationen an die Presse gegeben habe, da der Betroffene nicht einmal Informationen über seinen Aufenthaltsort an seine Familie gegeben habe.
    • Weiterhin beantragt die Verteidigung das Hinzuziehen der Verfahrensakten vom Prozess gegen Mehmet Fatih S. Und das Verlesen der Anklageschrift gegen ihn. Außerdem wird beantragt, dass einige der Beweislegungen von den MIT Gerichtsverfahren verlesen werden
    • MIT Agenten, welche Mordpläne schmiedeten, werden zu Bewährungsstrafen verurteilt. Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, sollte auch für den Angeklagten eine Bewährungsstrafe in Erwägung gezogen werden

Der StA widerspricht diesem dritten Antrag der Verteidigung, da es sich um Spekulationen handele bezüglich des türkischen Geheimdienstes in Deutschland und dieser nichts mit diesem Fall hier zu tun habe.

  1. Antrag
    • Die Verteidigung beantragt das Einholen eines Sachverständigengutachtens von Mehmet Bayrak. Mehmet Bayrak ist Kurdologe und Turkuloge und sei mit der Geschichte der Kurden, Aleviten, Kızılbaş befasst.
      • Die Verfolgung und Unterdrückung der Aleviten habe bereits im Osmanischen Reich begonnen. Es habe ein Massaker in Dersim gegeben. Aufgrund von Angst vor Verfolgung durch die Osmanen hätten die Aleviten sich in die bergige Region zurückgezogen.
      • Der Schwiegersohn vom Propheten Mohammed Ali stehe im Zentrum der alevitischen Lehre des Menschen. Der Mensch gelte als autonom und selbstverantwortlich. Es handele sich um eine diesseitsorientierte Lehre, deren Ziel darin liege, dass das Individuum Liebe spüre. Der meschliche Verstand gelte als Quelle der Offenbarung, damit sei der Mensch selbst in der Lage zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Es gelte die Maxime der Beherrschung der Hand – sich nicht an dem Hab und Gut anderer zu vergreifen -, der Zunge – nicht lügen – der Lende – Herr über die eigenen sexuellen Triebe zu sein, keine Untreue –.Der Rang eines Menschen ist nicht von besonderer Bedeutung und Gleichheit spielt eine zentrale Rolle und auch die Einvernehmlichkeit mit sich selbst und der Gemeinschaft.
      • In der Geschichte der Alewit*innen in der Türkei gab es mehrere Genozide gegen sie, welche vom türkischen Staat begangen oder unterstützt wurden.
      • die Aleviten seien in der Türkei nicht anerkannt und würden offiziell als Muslime gelten. Steuern gehen somit automatisch an sunnitische Moscheen. Alewitische Moscheen gibt es kaum.
      • Die Alewit*innen als Minderheit in der Türkei anzuerkennen war EU-Beitrittsvoraussetzung.
      • Die Sprache der Aleviten sei Zaza und Kurmanji.
      • Der alevitische Glaube würde dem sunnitischen Islam entgegen stehen.
      • Kemalismus sei die Fortsetzung der nationalistischen Jungtürken-Bewegung. Die Staatsgrundung 1923 habe unter Verleugnung des Genozids an Armenier*innen stattgefunden. Der türkische Staat übernahm die Idee des chauvinistischen Nationalismus. Trotz Sekularismus sei der Panislamismus seitens Regierung propagiert worden. Die Identität der Alewit*innen sollte ausgelöscht werden. Es kam 1937 zu Aufständen und Unruhen in Dersim. Es folgte ein Massaker an Alewit*innen in Dersim.
    • Zum Massaker in Dersim im Jahr 1937 werde beantragt einen Dokumentarfilm in Augenschein zu nehmen, darin würden Überlebende des Massakers von ihren Erfahrungen berichten.
    • Weiterhin werde beantragt Hıdır Tunç als Zeuge zu laden. Dieser sei Augenzeuge des Massakers in Dersim.
      • Heute wird versucht religiöse Stätten der Alewit*innen durch Staudämme zu zerstören. Aleviten werden auch in Deutschland negiert und können ihre Identität nicht leben, Atatürkpolitik war auch von Unterdrückung geprägt; entweder Assimilation oder Vernichtung.
      • Am 10. Dezember 1978 gab es einen Anschlag in einem nationalistischen Kinofilm. 2 Tage später einen Anschlag in einem alewitischen Cafe bei dem 2 Lehrer erschossen wurden. Die Auseinandersetzung hatte seinen Höhepunkt am 22 Dezember. Es wurde durch Markierungen an Häusern ein Pogrom vorbereitet. Am nächsten Tag wurden die Menschen au ihren Häusern herausgeholt, getötet, geplündert, gefoltert und vergewaltigt. Der Bürgermeister unternahm nichts. 1978 wird der Ausnahmezustand  als „Konflikt zwischen rechten und Linken“ genannt und als Vorwand  genutzt, um den Militärputsch vorzubereiten. Nach dem Militärputsch gründete sich die PKK.
      • 1980 war das Pogrom von Yorum, bei dem 18 Menschen von Anhängern der grauen Wölfe getötet wurden. Viele Alewit*innen waren Teil der Arbeiterbewegung. Reaktionäre Massen stürmten auf alewitische Stadtteile während die Polizei sich passiv verhielt.
      • Es gab ein weiteres Massaker 1993 in der Türkei. das Verfahren gegen seine Drahtzieher wurde eingestellt.
      • Am 12.-15. März 1995 gab es einen staatlich gelenkten Progrom gegen Alewit*innen. Einige, die Widerstand geleistet, befinden sich immer noch in Haft.
      • 2010 wurde eine Gedenkfeier von Alewit*innen von Anhänger*innen der MHP, Nationalisten und Islamisten angegriffen. Mit lauter Musik, Wolfsgruß und „Alahuakbar“ sollte die friedliche Demonstration eingeschüchtert werden.
      • 2013 wurden in 13 Provinzen der Ausnahmezustand wegen Konflikten zwischen Linken und Rechten ausgerufen; türkische Polizei attackiert alevitische Menschen
      • Etwa 80 % der Gefangenen bei den Gezi-Protesten waren Alewit*innen. Auch hier sei also zielgerichtet gegen alewitische Organisationen vorgegangen
    • Es wird beantragt den FAZ-Artikel „Schwerelos der Abtrünnigen“ mit in die Verhandlung hinzuzuziehen.
    • Weiterhin wird die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens von Jan Kızılhan beantragt. Es geht um transkulturelle Psychiatrie und generationsübertragene Traumata. Kızılhan sei für sein Engagement für die jesidische Bevölkerung ausgezeichnet worden.
      • Input zu psychiatrische Gutachten, es geht um transkulturelle Psychiatrie und generationsübertragene Traumata
      • Die Ideologie der Folter wird folgendermaßen beschrieben: es gehe vor allem um Angst und Repressionen/Bestrafung und weniger um Erpressung. Damit solle die Bevölkerung gebrochen werden; mit dem „Verschwinden lassen“ von Menschen, werde eine Terrorisierung einer ganzen Bevölkerung und eine Warnung an alle erwirkt. Durch solche kollektiven Traumata komme es zu einer umfassenden Erschütterung; es brauche eine gesellschaftliche Aufarbeitung und Anerkennung, um dies zu verarbeiten. Es dürfe keine Straflosigkeit geben. Zusätzlich zu der kollektiven Aufarbeitung und müsse das Erlebte zu einer historischen Wahrheit gemacht werden.
      • Es ist notwendig, das Leiden und ungesühnte Verbrechen anzuerkennen. Mit der Bestrafung als „Terroristen“ erfolgt eine Umkehrung der Opfer/Täter-Rolle und erschwert die Aufarbeitung.
      • Der Angeklagte hat Angehörige verloren und ist Opfer eines kollektiven Traumas. Eine Sympathie mit dem Widerstand und der kurdischen Freiheitsbewegung ist in seinem Fall selbstverständlich.
    • Des Weiteren werde bezüglich des Themas Trauma beantragt den Arte Dokumentarfilm „Vererbte Narben“ in Augenschein zu nehmen.

Der StA erklärt, dass die Verfolgung der Kurden und Aleviten bekannt sei, weshalb das erste Gutachten entbehrlich sei. Bezüglich des zweiten beantragten Gutachtens gebe es keine Anhaltspunkte für ein eigenes erfolgtes Trauma auf der Seite des Angeklagten HY.

[Anm.: Während die Verteidigung den letzten, sehr umfangreichen Antrag verliest, zeigt sich der Senat gelangweilt bis genervt, versucht immer wieder durch Blicke auf den Papierstapel der Verteidigung herauszufinden, wie viele Seiten des Antrages noch zur Verlesung übrig sind.]

Anschließend zieht sich das Gericht für ca. 5 Minuten zurück. Danach verkündet R1 um 12:10 Uhr, dass eine Mittagspause eingelegt werde bis 13:45 Uhr. [Anm.: Die Länge erscheint ungewöhnlich, an bisher allen anderen Verhandlungstagen wurde lediglich eine Mittagspause von 45 Minuten eingelegt.]

Nach der Pause verkündet das Gericht, dass der Verhandlungstag am folgenden Werktag nicht stattfinde. Der nächste Verhandlungstag ist somit der 07.11.17.