Verfahren gegen Hıdır Yildirim – 2. Verhandlungstag

Erklärung von Hıdır Yildirim am zweiten Prozesstag, 07.09.2017, Kammergericht Berlin

Ich bin in einem Bergdorf von Dersim geboren, dessen neuer Name Atadoğdu ist und dessen alter Name Teştek (Teschtek) gewesen war. Ohne eine kurze Darstellung der Vergangenheit von Dersim wird es schwierig sein, den Grund, das Ergebnis und die Bevorzugungen meinerseits zu verstehen.

Dersim und dessen Umkreis spielen eine ernsthafte Rolle in der Entwicklung und den Präferenzen meines Lebens. Als Identität ist Dersim eine Region, die kurdische sowie Kızılbaş Alevi Identitäten beinhaltet. Dersim ist zu 80 % kurdisch, Kızılbaş und diese führten ein gemeinsames Leben mit 20 % Armeniern, die auch ein altes Volk in dieser Region sind und beide sind die Besitzer dieser Erdoberfläche und zwar bis zu der Zeit von Abdulhamit. Diese beiden Völker lebten bis dahin frei und autonom.

Die Osmanen versuchten nach Innen den Druck über die Regionen unter eigener Herrschaft zu erhöhen, um die Abhängigkeit und die Loyalität zum Sultan (weiter) zu entwickeln. Um diese Kultur in Dersim zu dominieren, fingen die Eroberungszüge an, um diese mit dem Islam, d.h. mit der Moschee und dem Koran bekannt zu machen. Da Dersim Kurdisch, Kızılbaş, Alevitisch und Armenisch war, wurde es davon beunruhigt. Andere alevitische Regionen in Anatolien blieben wegen der Massaker in der Zeit von Yavuz Sultan Selim stumm. Wegen des Drucks erlitten die Kurdischen Kızılbaş Aleviten und Armenier eine Binnenflucht. Sie zerstreuten sich auf Regionen wie Erzincan, Erzurum, Sıvas, Malatya, Maraş. Die Übriggebliebenen versuchten, ihre Glaubensrituale streng geheim zu verwirklichen. Abdulhamit versuchte, den islamischen Glauben dominant zu machen und als einzige Religion zu verbreiten. Dieser Prozess dauerte bis 1900 an.

Die Bestrebungen im Jahr 1915, nur eine Nation zu schaffen, fingen mit den Grausamkeiten von Talaat und Enver Pascha an. Mit diesem Ziel wurden 1,5 Millionen Armenier und Assyrer-Syrianer massakriert. Nachdem sie diese National täten beseitigt hatten, da sie diese als Gefahr ansahen, fingen sie an, gegen die Kurden vorzugehen.Während das Osmanische Reich den Zerfallsprozess durchmachte, hörten trotzdem die Bemühungen nicht auf, dass die Nichtturkvölker die Rechnung zahlen sollten; die Massaker gingen also weiter. In den Jahren 1920-21 wurde mit den Abkommen von Sèvres und Lausanne die Region in der die Kurden leben, zwischen barbarischen Staaten gevierteilt — Türkei, Iran, Irak und Syrien. Da die Türkische Republik in früheren Massakern und Völkermord Erfahrung hat, erklärte sie den Kurden in Nord-Kurdistan den Krieg. Die Kurden sah sie als Hindernis und potenzielle Gefahr für ihre Vorhaben an, eine Nation zu sein, deswegen verübte die Republik Türkei in Botan, Zilan, Piran, Koçgiri Massaker; sie massakrierte zehntausende Frauen, Kinder, junge Menschen und alte Menschen. Ebenso viele wurden auch zur Flucht getrieben, obwohl die Gründer der Republik (Atatürk und sein Team) beim Ausruf der Republik sagten, dass dies eine gemeinsame Republik der Kurden und Türken sei.

In den kurdischen Regionen bestimmt der Präsident sogar die Abgeordneten. Die Abgeordneten, die bestimmt worden waren, sollten mit ihren Nationaltrachten zu der Ausrufung der Republik erscheinen. Somit versucht er, ein Image bei den eingeladenen internationalen Gästen zu schaffen, dass das Parlament beiden Nationalitäten gehöre. In Dersim wurden Hasan Hayri und Diyap Agha als Abgeordnete bestimmt. Zur ersten Sitzung des Parlaments gehen beide in ihren Nationaltrachten, das Parlament kostiruiert sich. Nach der Ausrufung der Türkischen Republik beleidigt Atatürk jedoch Hasan Hayri, warum er mit seiner Nationaltracht zum Parlament gekommen sei. Wegen dieser Auseinandersetzung wurden H. Hayri und ein Freund von ihm hingerichtet. Diese Hinrichtung wurde mit dem Ziel ausgeführt, eine Botschaft an die kurdischen Parlamentsabgeordneten, aber auch an die Bevölkerung der Region zu senden. Damit wurde die Botschaft vermittelt, dass diejenigen, die sich nicht fügen, sondern gegen die Türkische Republik rebellieren, am Galgen enden würden.

Die Massaker wüteten in Nord-Kurdistan und bis in die 1930er Jahre wurden in 27 Regionen Massaker durchgeführt. Es wurden Verbannungen ausgesprochen. Im Jahre 1935 sagte der damalige Premierminister und Architekt des Lausanner Abkommens, Ismet Inönü, in seiner Parlamentsrede, dass Dersim die Hauptpestpocke sei und mit einem Skalpell herausgeschnitten werden sollte. Im Jahre 1935 wird das Dersim-Gesetz (Dersim Kanunu) verabschiedet und der Name von Dersim wurde geändert. Es wird Tunç-elli (Eiserne Hand) daraus gemacht. Nach dem Tunceli-Gesetz werden in der Region in den Provinzstädten, Kreisstädten und Städten Militärbataillone aufgebaut, um gegen die Kurdische Bevölkerung Dersims Massaker zu verüben. Das Massaker von 1937 beginnt. Die Soldaten, die vor dem Massaker in die Region gesendet werden, fangen sofort an, die Frauen und Mädchen, die in ihren Feldern und Gärten arbeiten, oder ihre Tiere in den Wäldern weiden, -zu vergewaltigen. Diejenigen, die dagegen Widerstand leisten, werden grausam geschlachtet und ein unnachgiebiger Völkermord wird gestartet. Die letzte Gewalepoche in Nord-Kurdistan, die Massaker von Dersim fängt an. Nach offiziellen Angaben sind 40.000 Kurdische Kızılbaş Aleviten in Dersim massakriert worden. Nach inoffiziellen Angaben wurden 90.000 Menschen getötet. Es wurden die Bäuche der schwangeren Frauen aufgeschlitzt, deren Kinder aus dem Bauch herausgenommen und an die Tiere verfüttert. Zehntausende wurden vertrieben, die Mädchen wurden den Bediensteten in der Region als Dienerinnen gegeben. Eines dieser „verlorenen Mädchen von Dersim ist Sakine, die die Frau von Kenan Evren, dem späteren Architekten und Vollstrecker des Putsches vom 12. September 1980 wurde. So ähnlich sind Hunderte Mädchen „verschwunden“, es fehlt immer noch jegliche Spur von ihnen. Darüber gibt es mehrere Dokumente, in dem die damaligen Zeitzeugen, die Soldaten, die an den Massakern teilgenommen haben, die Vollstrecker und die überlebenden Opfer zu Wort kommen. Als Verantwortlicher für dieses Massaker sucht man Sündenböcke. Man beschuldigt Seyid Riza, der in der damaligen Zeit in der Gesellschaft führend, geliebt und geachtet war. Seyid Riza, sein Sohn und sieben seiner Freunde werden festgenommen und mit der Hinrichtung bestraft. Atatürk, der in Elaziğ Seyid Riza trifft, sagt zu Seyid Riza, dass er ihn um Verzeihung bitten soll, dann würde Atatürk ihn nicht hinrichten lassen. Daraufhin ist die Antwort von Seyid Riza: „Ich konnte die Lügen und Verleumdungen von Ihnen nicht bewältigen, das macht mich wehmütig. Ich bin vor Ihnen nicht auf die Knie gegangen und das sollte Sie wehmütig machen.” Da Seyid Riza alt ist und sein Sohn Hüseyin noch jung, können beide rechtlich gesehen nicht hingerichtet werden. Aber am gleichen Tag wird das Alter von Seyid Riza jünger, das Alter seines Sohnes älter gemacht und somit werden beide zum Galgen gebracht. Seyid Riza, der zum Galgen geht, sagt: „Wir sind Söhne von Kerbela, wir sind ohne Schulden, es ist beschämend, es ist eine Sünde, es ist Unterdrückung!“ und sie werden hingerichtet.

Das Massaker dauert insgesamt bis ins Jahr 1938 an. Die Bevölkerung von Dersim erlebt ein Trauma, das schwer wieder gut zu machen ist. Die Wunden und Traumata dieser schweren Massaker sind immer noch nicht geheilt. Der in den 70er Jahren amtierende Premierminister S. Demirel schickt den jetzigen Generalvorsitzenden der CHP Kılıçdaroğlu zu Ihsan Nuri Cağlayan, um einen Bericht hierüber anzufertigen. Ihsan Nuri Çağlayan war 1937-38 bei dem Genozid in Dersim als Inspektor im Dienst. Kılıçdaroğlu nimmt den Bericht auf Kassetten auf, auch die Gespräche. Caglayan vergleicht die Menschen von Dersim mit Ratten. Folgende Sätze sagt er: „Alle haben wir in die Höhlen gefüllt und wie Ratten vergiftet. Ihre einzige Schuld war, dass sie Kurden und Aleviten waren.“ Somit wird in den gesamten kurdischen Gebieten der letzte Ring des Massakers vollendet. „Der beste Kurde, ist der tote Kurde“, wird gesagt und da sie vor den toten Kurden auch Angst haben, werden deren Leichen nicht den Familien übergeben. Damit von den Massakern, die sie machen, keine Spur zurückbleibt, lässt uns die Türkische Republik als Erbe eine verwundete und schmerzhafte Vergangenheit! Hz. Ali, den die Aleviten als Heiligen und Propheten ansehen, sagt: „Wer seine Wurzeln leugnet, ist ein Sündiger“ der Türkische Staat hingegen sagt: „Wer sich und seine Identität nicht verleugnet, kann den Massakern und dem Tod nicht entgehen!“ In dieser auswegslosen Zwangslage leben die Menschen von Dersim. Bis Mitte der 70er-Jahren herrschte in Kurdistan diese Totenruhe.

Wie jede andere Gesellschaaft versucht auch die kurdische Gesellschaft auf eigenen Wurzeln zum Leben zu erwachen. Die Gründe für die beschriebenen Massaker wurden hinterfragt und untersucht. Warum wurden 28 Massaker an den Kurden begangen? Warum werden die Kurden als schuldig angesehen, wenn sie wie jedes andere Volk mit eigener Identität und Kultur leben wollen? Als jene 28 Massaker stattgefunden haben, gab es die PKK nicht, d.h. der Grund kann nicht die PKK gewesen sein. Der Grund war, dass jegliche Hindernisse gegen die Schaffung einer einzigen Nation, wie auch immer, vernichtet und ausradiert werden sollten. Das war das Ziel! In den 1980er Jahren, bevor noch in Kurdistan die Wunden der Massaker geheilt waren, hatte man noch einmal angefangen, die Massaker zu planen. Am 12. September 1980 wurde mit dem Militärputsch jede Stadt, Kreisstadt, jedes Dorf in Kurdistan militärisch umzingelt, die Jugendlichen ins Gefängnis gesteckt. Ich hatte in jener Zeit angefangen zur Mittelschule zu gehen, ich war in einem Alter, wo ich schon von den Geschehnissen etwas verstand. Die Schule in der ich war, wurde im Winter als Schule, im Sommer als Kaserne benutzt. In den Jahren 1980-81 war mein Cousin Hüseyin Aydın verhaftet worden. Ein Jahr später wurde er durch schwere Folter getötet und seine Leiche an seine Familie ausgeliefert. In den selben Jahren wurde Hıdır Aslan, aus unserem nahen Nachbarsdorf Taşıtlı, in Izmir festgenommen. Er wurde nach einem Jahr hingerichtet und die Leiche zur Bestattung an seine Familie übergeben. Jeden Tag wurden wir von solchen ähnlichen Nachrichten getroffen. Zudem war unser Dorf tagtäglich militärischen Razzien ausgesetzt. Jeden Tag verließen die Männer des Dorfes das Dorf, um sich vor dem Militär zu retten. Sie nahmen diejenigen, die sie im Dorf fanden, mit und brachten diese zu der Schule, die im Winter als Schule und im Sommer als Kaserne benutzt worden war, dort folterten sie dann diese. Die Soldaten wollten Waffen haben, sie sammelten Schrotflinten, die die Dorfbewohner gekauft hatten, um ihr Vieh vor den Wildschweinen zu schützen. An einem Tag überfiel das Militär wie immer unser Dorf. Mein Vater ging an dem Tag später von zu Hause weg, wir hörten Schüsse, wir waren ohnmächtig vor Verzweiflung. Wir wussten, dass dieser Schuss augf unseren Vater gerichtet war, da er zu spät von Zuhause weggegangen war. Wegen der Dunkelheit haben die Soldaten ihn zum Glück nicht getroffen. An jenem Abend haben sie meinen Onkel, den Bruder meines Vaters, mitgenommen. Sie folterten und erniedrigten ihn. Die Soldaten ritten der Reihe nach auf dem Rücken meines Onkels, der 55-60 Jahre alt war. Die älteren alevitischen Männer rasierten ihren Schnurrbart nicht, da dies nach dem Glauben Sünde ist. Das Militär hatte eine Seite des Schnurrbartes von meinem Onkel rasiert und die andere Seite nicht. Viele waren wegen der Folter verstümmelt. Die Bevölkerung in jener Region irrte auf der feinen Linie zwischen dem Tod und dem Leben umher. Auch in den 1980er war der Grund dafür nicht die PKK, weil sie in unseren Gebieten nicht existierte, oder jedenfalls, selbst wenn sie schon existierte, wir sie nicht kannten. In den 1990er Jahren war eine durch den Staat gegründete Konterguerilla, d.h. ein Mordkommando im Einsatz.

Zwischen 1988-90 wurde ich in Istanbul festgenommen und zur Armee geschickt. Als ich 1990 zum Dorf zurückkehrte, war bereits ein Kommando-Bataillon gegründet worden. Ich wusste nichts, kam ahnungslos zum Dorf. An einem Tag, wo ich zu Hause war, führte das Militär eine Razzia in unserem Dorf durch. Sie haben angefangen, mich zu befragen, ich zeigte meine Unterlagen, die zeigten, dass ich aus dem Wehrdienst komme. Warum ich dahin gekommen, sei, ob es denn keinen anderen Ort gäbe, wo ich hingehen könnte. Daraufhin antwortete ich, dass das mein Dorf sei und ich hätte keinen anderen Ort, wohin ich gehen könnte. Sie gingen dann, führten aber weiter in regelmäßigen Abständen razzien im Dorf durch. Ich wurde gefoltert, erniedrigt, beleidigt und bedroht. Gegen Ende 1991 wurde ich aus meinem Dorf rausgeschmissen. Für den Fall der Zuwiderhandlung wurde ich von einem Offizier namens Özer mit dem Tod bedroht im März 1992 stellte ich schließlich einen Asylantrag in Deutschland. Nachdem ich aus dem Dorf geflohen war, wurde – wie ich aus Berichten und Zeitungen erfahren habe – das Dorf evakuiert, die Wälder in Brand gesteckt und aus Afrika giftige Schlangen in die Wälder gebracht, damit die Guerilla dort keine Zuflucht finden könnte. Ein Guerilla sei sogar durch einen Schlangenbiss getötet worden. Die Schulen, die der Staat angeblich so sehr mochte, wurden geschlossen und zu Kasernen umgewandelt. In der Presse wurden aber für die Weltöffentlichkeit die Lügen propagiert, dass die PKK die Schulen in Brand stecke. Da diese Gebäude aber bereits nicht mehr die Schulen gewesen waren, sondern zur Militärkaserne umgewandelt worden waren, waren diese deswegen in Brand gesteckt worden.

In Kurdistan waren 4.000 Dörfer evakuiert und zerstört worden. 17.000 Morde wurden begangen, deren Täter unbekannt waren. Es wurden Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, Rechtsanwälte, Ärzte, Abgeordnete und Dorfbewohner ermordet. Es wird immer noch gemordet. Wäre die PKK so eine Bewegung, wie von der Türkischen republik behauptet, hätten sie etwa die türkischen Dörfer nicht in Brand stecken, deren Intellektuelle, Schriftsteller, Abgeordnete töten könne? Nach so vielen Vorkommnissen beharrt sie stattdessen immer noch auf dem Wunsch nach Frieden und Brüderlichkeit. Damit der schmutzige Krieg beendet wird und zwischen den Völkern Frieden zustande kommt, hat die PKK mehrere Male den Waffenstillstand erklärt. Die Antwort der Türkischen Republik geprägt von Vernichtung.

Der kurdische Volksführer Herr A. Öcalan hatte zu Newroz 2013 vor Millionen von Menschen eine Erklärung veröffentlicht, in der er sagte, dass die Waffe ihre Zeit erfüllt habe, jeder Mensch solle alles für den Aufbau des Friedens tun. Die gegenseitigen Verhandlungen hatten angefangen. Dies wurde eine Hoffnung für die Bevölkerung der Region, alle freuten sich darüber. Im Jahr 2015 verbrannte Tayip Erdoğan in Dolmabahçe mit dem Friedenstisch auch die Hoffnungen des Volkes und erklärte den Krieg.

Er versuchte den Arabischen Frühling zu seinen Gunsten zu nutzen, um sich zu stärken und er hat die barbarischen islamistischen Banden ausgebildet, durch seine Waffenarsenale unterstützt und gegen die Kurden geschickt. Er verwandelte Rojava in ein Blutbad. Wenn es um die Kurden geht, spielte auch die ganze Welt drei Affen. Wären die Kurden nicht dort, hätte der IS im Mittleren Osten sein Khalifat ausgerufen und Erdoğan wäre der Khalif gewesen. Die Massenmorde wären überall in der Welt 5-10 Mal mehr gewesen. YPG/YPJ hatte die Bestrebungen des IS in Rojava, die PKK jene Bestrebungen in Kirkuk, Mahmur, Shingal zunichte gemacht und der Menschheit der ganzen Welt ein friedliches Leben geschenkt. Da der IS gegen die kurdische Bewegung nicht standhalten konnte, war die Regierung der AKP verrückt vor Wut geworden und zerstörte kurdische Städte in Nord-Kurdistan. Sie verursachte in 70 Tagen den Tod von mehr als 600 Menschen. Mehr als 10 Städte und Bezirke wurden dem Erdboden gleich gemacht. 450.00 Menschen mussten fliehen.

Diese Ereignisse erinnern mich an die Jahre 1992-94. Auch in den Jahren 92-94 wurden 183 Dorfgemeinden, 823 Ortschaften in Brand gesteckt und zerstört. 40.933 Personen wurden verbannt. Eine dieser Dorfgemeinden war mein Dorf, in dem ich auf die Welt kam und groß geworden war. Tayip Erdoğan und die vorherigen Regierungen setzten die Menschen aus der Region unter Druck, dass sie ihre Wahl treffen sollten. Entweder bist du auf unserer Seite oder du wirst beseitigt! Vor allem menschlich sein, ein Gewissen haben, ist sehr wichtig: Geschehnissen gegenüber nichts tun, ist weder moralisch noch gewissenhaft. Wie bei den vergangenen Massakern, wurden auch diejenigen, die auf der Seite der regierung standen nach einer Weile beseitigt, da auch diese potenziell als gefährlich eingestuft worden waren. Entweder wurden sie getötet oder verbannt und ihrem eigenen Schicksal überlassen. Deswegen finde auch ich als derjenige, dessen Volk diese Massaker erlebt hatte, es als menschliche und gewissenhafte Verantwortung, dass ich meinem Volk beistehe. Das ist meine Sicht und auch die Aufgabe und meine Identität verpflichtet mich dazu, dass ich die Unterdrückung, das Leid meines Volkes, auf demokratischen Wegen der Weltöffentlichkeit bekannt mache. Wenn dies eine Schuld ist, dann bin ich schuldig und dann möchte ich meine Schuld gestehen: Ich bin dafür, dass die Menschen nicht sterben sollen. Damit nicht viel mehr Dörfer, Kleinstädte, Städte zerstört werden, werde ich meine Stimme erheben. Auf der ganzen Welt werden solche Stimmen erhoben; dann sind alle diese Völker schuldig.

Obwohl die Kurden eine viel größere Bevölkerungsanzahl haben als viele europäische Länder, ist deren Sprache verboten, alles, was zu den Kurden gehört ist verboten. Wer dies zur Sprache bringt, darüber spricht, wird entweder getötet oder ins Gefängnis gesteckt und so zum Schweigen gebracht. Bei all diesem Töten, zum Schweigen bringen und Bestrafen, hat die Türkei auch manche europäischen Länder zu ihrem Komplizen gemacht. Diese Länder unterscheiden sich mit ihren Ansätzen Kurden gegenüber von der Türkei nicht. Sie verhalten sich sozusagen wie ein Türke. Die Staatsanwaltschaft wirft mir in der Anklageschrift gegen mich vor, dass ich ein Kader der PKK sei und beharrt darauf, dass mein Name Piro sei. Ich lehne diese Behauptung vehement ab. Als Person bin ich in meinem ganzen Leben nie Kader gewesen. Nur als ein Kurde, als ein Mitglied eines von Tod, Verfolgung und Genozid erlebten Volkes wollte ich bei meinem Volk sein. Mein Interesse an dem Namen Piro kommt von meinem alevitischen Glauben. Bei meinem engen Freundeskreis werde ich so gerufen, deswegen wollte ich selbst diesen Namen tragen. Der Beweis dafür sind meine Telefonate, die ich mit meinem Freundeskreis führte. Wenn dieser mein Deckname gewesen wäre, hätte ich meinen eigentlichen richtigen Namen in den sozialen Medien nicht benutzt. Ich hätte meine Bilder nicht mitgeteilt! Wäre ich ein Kader, könnte ich nicht in die Türkei fahren. Nach 25 Jahren ging ich 2007 das erste Mal zu meinem Dorf, in dem ich auf die Welt kam und groß geworden war. Ich war schwer enttäuscht. Ich habe festgestellt, dass es aus meiner Vergangenheit gar keine Erinnerungen mehr gab. Das frühere Dorf war vertrocknet, zu unfruchtbarer Erde geworden. 150 200-jährige Walnussbäume waren vertrocknet. Als ich nach dem Grund fragte, sagte man mir, man habe von Hubschraubern chemische Bomben abgeworfen, wodurch alle Fruchtbäume getrocknet worden seien und die Häuser in Brand gesteckt wurden. Nach jenem Tag in dem Dorf gab es weder eine Erinnerung von der Vergangenheit noch etwas anderes für mich mehr. Ich kehrte mit einem großen Schmerz zurück und habe beschlossen, nie wieder dorthin zu gehen. 1937-38 wurde unser Dorf bereits verbrannt, mein Vater erzählte mir, dass es 7 Jahre lang verlassen war. 1937-38 wurde der Cousin von meinem Vater von den Soldaten durch das Bajonett verletzt, während er sein Vieh weidete. Die Dorfbewohner fanden ihn und brachten ihn zum Dorf. Nach einer Weile ist er dann an seiner Wunde gestorben. Der Cousin hatte auch den Namen Hıdır. In der heutigen Zeit blieb das Dorf ebenfalls verlassen, aber diesmal für 25 Jahre. 1937-38 waren Obst und Felde nicht verbrannt. Nach den Jahren 1990-92 hatte man alles, was es gab, dem Erdboden gleich gemacht. Diese Vorkommnisse zwingen einen zu einer Wahl.

In der Türkei unterdrückten und beleidigten mich die Strafverfolger. In der Türkischen Republik war das Kurdesein und Alevitesein schon zwei Verbrechen. Um die Annäherung und Solidarität der alevitischen Bewegungen mit dem kurdischen Freiheitskampf zu verhindern, haben sie im Jahre 1998, in Sivas, 33 Studenten, Intellektuelle und Künstler bei lebendigem Leib verbrannt und damit an die alevitische Bevölkerung eine Botschaft gesendet, dass die Aleviten sich von der kurdischen Bewegung fernzuhalten haben. Da man in der kızılbaş-alevitischen Philosophie grundsätzlich auf der Seite der Unterdrückten ist, haben die Aleviten diesen Grundsatz nicht vergessen und ihre Beziehungen nicht abgebrochen. Das Schicksal von Kurden und Aleviten hängt voneinander ab. Sie alle wussten, falls einer von beiden Gruppen vernichtet werden sollte, würde als nächste der andere dran sein. Schließlich ist die PKK keine Ursache, sondern Ergebnis der Politik der Türkischen republik. Es ist nicht die PKK, die verantwortlich für das ist, was passiert ist!

So wie sie in Mahmur, Shingal, Kirkuk, Arbil, Rojava ihr eigenes Volk und andere Völker vor der Brutalität und Grausamkeit des IS geschützt hat, handelt sie auch in Nord-Kurdistan in dem Bemühen, dieses von den Grausamkeiten der Türkischen Republik zu schützen. Sonst würde es wie in den 1925er und 1937-38er Jahren nur Ablenkungsmanöver geben. Es ist klar ersichtlich, dass in der Presse und in den Medien darauf beharrt wird, es gäbe einen Staat, eine Nation und sogar eine Religion. Das heißt, dass sie weiter den Weg der Massaker gehen. Vor allem als ein Mensch fühle ich mich in gewissenhafter Verantwortung gegen diese Massaker zu sein. Ich führe den Kampf gegen das Töten, die Zerstörung, die kulturelle Vernichtung und dafür, alles, was uns weggenommen wurde, zurückzubekommen. Ich bin der erbe meiner großväter und Väter und führe diesen Kampf, damit ihn meine Erben nicht führen müssen. In meinem Leben habe ich in den 25 Jahren in Deutschland weder mit Deutschen noch mit Angehörigen anderer Völker Schwierigkeiten erlebt. Ich bemühte mich, gegenüber denjenigen, die mein Volk respektierten genauso, sogar viel mehr Respekt entgegenzubringen. Die höchste Gerechtigkeit hierfür ist das Gewissen. Wer kein Gewissen hat, hat auch keine Gerechtigkeit. Wenn in einem Land der Schuldige groß ist, ist die Gerechtigkeit klein.

Das heißt, so ist auch die Türkei! Wenn ich verurteilt werden sollte, sollte ich unabhängig von meiner Volkszugehörigkeit verurteilt werden. Denn dies ist der Sinn und die Bedeutung der Waage, die die Gerechtigkeit symbolisiert.

Mit meinen Grüßen und Hochachtung

H. Yıldırım

24.07.2017

Wie Seyid Riza sagte:

Es ist Schande, es ist Sünde, es ist Grausamkeit, was ihr dem Volk antut!