Verfahren gegen Hıdır Yildirim – 1. Verhandlungstag

04.09.17, Kammergericht Berlin

Anwesende: 2. Strafsenat mit drei Richter*innen, Generalstaatsanwalt, 2 Verteidiger, der Angeklagte Hıdır Yildirim, Dolmetscher, Gerichtsprotokollantin, ca. 6 Justizbeamt*innen, ca. 10 solidarische Prozessbeobachter*innen, 2 Pressevertreter*innen, Hıdır

[Prozessbeobachter*innen werden durchsucht, müssen alles abgeben und dürfen keine Schreibmaterialien in den Saal nehmen]

[Es fällt auf, dass es sich bei den Richter*innen um die selben handelt, die bereits die Verfahren gegen Ali Hıdır Doğan und Cem Aydin geführt haben. Diese Richter*innen bilden den zweiten Strafsenat]

Zu Beginn der Verhandlung erklärt sich die Verteidigung nicht einverstanden mit der Sitzordnung und stellt Antrag, die Sitzordnung so zu ändern, dass Hıdır Yildirim und der Dolmetscher nicht mehr hinter der Verteidigung in einem Glaskasten sitzen sondern im Saal. Es bestehe keine schriftliche Verfügung dafür, dass er hinter einem Glaskasten sitzen muss.

Der vorsitzende Richter erklärt dazu, dass eine mündliche Anordnung ausreiche. Bisher gebe es die Anordnung, die Sitzordnung für den heutigen Tag so beizubehalten. Die Gründe für den Glaskasten seien die Fluchtgefahr und dass es sich um ein Staatsschutzverfahren handele. Einer der Verteidiger erläutert, dass es eine große Einschränkung der Verteidigung darstelle, Fluchtgefahr mit so vielen Polizeibeamten im Saal unmöglich und es ansonsten unnötig sei, es heute so zu machen und die nächsten Male anders. Der Generalstaatsanwalt gibt seine Einschätzung dazu ab, er schätze die Gefahrenlage ähnlich ein und spricht sich somit für die Beibehaltung des Glaskastens aus.

Die Verhandlung folgt eine kurze Unterbrechung. Das Gericht beschließt, die Sitzordnung für den heutigen Tag so beizubehalten.

Danach verließt der Generalstaatsanwalt die Anklageschrift.

[Das Mitschreiben der Anklageschrift war nicht möglich, deshalb wird hier teilweise aus dem Prozessbeobachtungsaufrufs, der Rest wird aus der Erinnerung widergegeben]

Der 49-jährige Hıdır Yildirim sei in Hozat/Dersim, Nordkurdistan, geboren. Im März [Änd.: Februar] 2017 sei er in Frankfurt festgenommen und in die JVA Moabit überstellt worden. Grundlage für die Verhaftung sei ein Haftbefehl des Kammergerichts Berlin gewesen. Hıdır Yildirim werde vorgeworfen, sich an einer terroristischen Vereinigung beteiligt zu haben. Er sei Gebietsleiter der PKK in Sachsen gewesen. In der BRD ist die PKK als terroristische Vereinigung im Ausland gelistet. Hıdır Yildirim habe die Aufgaben eines Gebietsverantwortlichen bearbeitet und sich auf Anweisung des Sektorverantwortlichen für den Bereich Nord engagiert [Sektoren unterteilt in Nord, Süd und Mitte]. Weiterhin habe er mitgewirkt bei der Organisierung von Kundgebungen, Pflege zur Aktivistenszene, sei in Spendenkampagnen eingebunden gewesen und habe dafür sorgen sollen, die kurdische Bevölkerung im Gebiet Sachsen in überregionale Arbeiten einzubinden. Am 3. Mai [Jahr nicht verstanden] in Belgien seien seine Tätigkeiten als Gebietsleiter formal bestätigt worden.

Der vorsitzende Richter verließt anschließend einen Vermerk vom 10. August 2017. Darin heißt es, dass es der Verteidigung darum gehe nachzuweisen, dass der Angeklagte Hıdır Yildirim nicht Gebietsleiter gewesen sei. Es werde daher der Zeuge DK geladen sowie weitere Zeugen der Polizei geladen.

Die Verteidiger stellen 2 Anträge: [die Anträge können nur bruchstückhaft wiedergegeben werden]

  1. Antrag: Es handele sich bei dem 2. Strafsenat nicht um das zuständige Gericht. Welcher Strafsenat welches der eingehenden Verfahren übernehme, sei durch ein Tonus-Verfahren geregelt. Die genaue Erläuterung dieses Tonus-Verfahrens ist Bestandteil des Antrags. Der 1. und 2. Strafsenat habe seit 2012 nicht an dem Tonus teilgenommen. Bezüglich des 2. Strafsenats habe es eine ständige Überbelastungsanzeige gegeben. Dem Angeklagten Hıdır Yildirim sei dennoch der 2. Strafsenat zugewiesen worden, obwohl eigentlich der 1. oder 3. Strafsenat zuständig gewesen sei. Der 2. Strafsenat habe ab dem 3.8.2017 wieder an dem Tonusverband teilgenommen, allerdings sei der Stempel vom Kammergericht vom 2. Juni. Die Entscheidung darüber werde vom Gericht zurückgestellt und ergehe zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens.
  2. Antrag: Beantragt werde, das Verfahren nach §260 Abs.3 StPO einzustellen. Demnach gebe es keine Verfolgungsermächtigung im Fall von Hıdır Yildirim. Die allgemeine Ermächtigung vom 6.9.2011 begründe die Verfolgung auf Gebietsebene. Hıdır Yildirim habe zwar gebietsleitertypische Aufgaben wahrgenommen, sei jedoch nicht Gebietsleiter gewesen. Allein aus der Unterordnung zum Sektorleiter und durch seine Aufgaben, könne man keine Rückschlüsse auf seine Position ziehen. Beim Zentralkongress würden Positionen der Gebietsleitung bestimmt, doch Hıdır Yildirim sei nicht einmal dort anwesend gewesen.

Der § 129b StGB sei im Jahr 2002 der PKK zugerechnet worden. Die Gültigkeit einer terroristischen Vereinigung im Ausland unterliege jedoch einer ständigen Überprüfung. Der Maßstab dafür sei die Achtung der Grundrechte durch die staatliche Ordnung und des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Laut dem Münchner Kommentar würden nur schwerwiegende Straftaten verfolgt werden. Befreiungsbewegungen im Ausland erfüllten zwar oft den §129b aufgrund von eigentlich strafbaren Handlungen, welche jedoch als Reaktion auf staatliche Willkür zu verstehen seien. Die selbstbestimmte Lebensgestaltung sowie die körperliche und geistige Integrität würden Werte darstellen, welche von einer die Grundrechte wahrenden staatlichen Ordnung geschützt werden müssten. Wenn dies nicht der Fall sei, dann sei es auch nicht möglich, dass Vereinigungen, die dagegen vorgehen, von der Verfolgungsermächtigung erfasst werden würden.

Die Verfolgungsermächtigung unterliege der ständigen Überprüfung. Systematisch würden grundlegende Menschenrechte in der Türkei durch staatliche Organe verletzt. Genannt werden nun eine Vielzahl von Beispielen der systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. So handele es sich bei den Opfern des Verschwindenlassens hauptsächlich um Kurd*innen und Linksoppositionelle. Der Antrag beinhaltet weiterhin eine Auflistung von Opferzahlen nach IHD [türkischer Menschenrechtsverein] mit folgenden Kategorien: Verschwunden nach Inhaftierung, Morde unbekannter Täter, Todesstrafe unter Folter, Bericht von Morden auf Befehl der Gendarmerie, Massengräber von Mitgliedern der PKK.

Spätestens seit den 1980er Jahre bis zum heutigen Zeitpunkt gebe es heftige Folter und Misshandlung, die sich stark gegen Kurd*innen richte. 2013 und 2014 habe es über 1000 gemeldete Fälle von Folter sowie Fälle politisch motivierter Festnahmen gegeben.

Weiterhin würden auch Grundrechte wie das Recht auf Versammlungsfreiheit in der Türkei nicht gewahrt. So hätten im Jahr 2014 Behörden Versammlungen nicht zugelassen, es gebe Fälle, in denen scharfe Munition gegen Demonstrierende eingesetzt worden sei. Proteste gegen IS-Angriffe in der Südosttürkei/Nordkurdistan seien von der Polizei angegriffen und 40 Personen getötet worden.

Des Weiteren habe es im Jahr 2012 Festnahmen von über 1000 Personen gegeben, die vom Demonstrationsrecht Gebrauch nehmen wollten. Dabei sei der Vorwurf des Terrorismus durch die bloße Teilnahme an Demonstrationen erhoben worden.

Hinzu kamen Nachrichtensperren, das Sperren von regierungskritischen Websites sei durch strenge Internetgesetze ermöglicht worden.

In Bezug auf die vergangenen zwei Jahre in der Türkei werden im Antrag Fälle von Wahlbetrug sowie massenhafte Entlassungen von Regierungskritiker*innen, Ausgangssperren in vielen Städten, welche wie in Cizre zu massenhaften Tötungen geführt hätten, genannt. Des Weiteren werden die Aktivitäten des türkischen Geheimdiensts MIT in Deutschland genannt.

Vor diesem Hintergrund stelle die derzeitige Verfassung des türkischen Staates derzeit kein Schutzgut des deutschen Staats dar.

Die PKK hingegen kämpfe für die Befreiung und Demokratie, also Werte, die so auch im Grundgesetz stünden, während die Türkei die Menschenrechte nicht wahre.

Die kurdische Bewegung, der KCK und der KCK-E zeige sich entgegen eines Staates, welcher Menschenrechte nicht achte und spreche sich aus für ein friedliches Zusammenleben der Völker, politische Mitbestimmung, ethnische Diversität und Selbstverwaltung, kulturellen Pluralismus, Säkularismus, Frauenrechte, Gleichberechtigung und Bürgerrechte. Weiterhin wird im Antrag auf die Friedensverhandlungen zwischen kurdischer Bewegung und der türkischen Regierung 2013-2015 abgezielt.

Die Aktionen der PKK würden sich nicht gegen das friedliche Zusammenleben der Völker sondern gegen den repressiven Staat Türkei, gegen Unterdrückung sowie gegen Gruppen, die entgegen des friedliche Zusammenlebens stehen (z.B. IS), richten.

Dabei gehe die PKK Allianzen mit der Bevölkerung ein und helfe ihnen. Ein Beispiel dafür sei die Unterstützung der Ezidinnen in Sinjar bei der Verteidigung gegen den IS.

Die Einstufung der PKK als Terrororganisation wirke direkt auf die Islamisierung der Türkei. […]

Der Generalstaatsanwalt merkt in einer kurzen Stellungnahme zum zweiten Antrag an, dass sich vieles auf die Zeit nach dem hier angegebenen Tatzeitraum beziehe.

Danach wird bezüglich des Selbstleseverfahrens beschlossen, dass die Teile 1 und 2 der Akte sowie Urkunden Teil dessen ist und die Kenntnisnahme bis 5. Oktober 2017 zu erfolgen habe.

Gegen das Selbstleseverfahren wird von beiden Verteidigern Widerspruch eingelegt.

Die Verteidigung stellt weiterhin einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht aufgrund des Glaskastens, indem der Angeklagte auf Beschluss des Gerichts sitzen muss.