Polizeigewalt gegen Geflüchtete in Ellwangen

Prozessprotokoll Ellwangen, 8. August 2018

Ankunft am Gericht um 8:30, die Verhandlung soll um 9 Uhr beginnen. Vier Justizbeamt*innen stehen vor dem Gebäude; sie rauchen, aber gleichzeitig sieht es so aus, als würden sie Wache halten.

Sicherheitskontrollen beim Einlass: Besucher*innen dürfen lediglich Schreibsachen mit in den Saal nehmen, und selbst die Schreibblöcke werden durchsucht. Zwei Personen diskutieren mit den Beamt*innen, ob sie zwei Kugelschreiber mitnehmen können. Nach einigem Hin und Her wird ihnen dies gestattet. Die Besucher*innen müssen eine Sicherheitsschleuse durchlaufen und werden zusätzlich abgetastet – selbst wenn das Gerät nicht piepst. Eine Ausweiskontrolle findet nicht statt. Eine Besucherin möchte ihre Wasserflasche mit reinnehmen, das wird ihr allerdings verboten. Kommentar einer Justizbeamtin: „Das ist ein Sitzungssaal, kein Speisesaal.“

Vor dem Sitzungssaal warten schon einige Prozessbeobachter*innen, Journalist*innen sowie Zeug*innen von der Polizei. Der Angeklagte wird in Handschellen – an einen Beamten gekettet – vorbei geführt. [Anmerkung: das wirkt auf mich übertrieben und martialisch]

Um kurz vor 9 kommt die Gerichtsprotokollantin und schließt den Saal auf. Die Prozessbeobachter*innen nehmen Platz, gekommen sind u.a. eine Person vom baden-württembergischen Flüchtlingsrat, einige solidarische Personen aus der Region, zwei Aktivist*innen von Justizwatch, Rex Osa aus Stuttgart und David Jassey aus Unterbergen, der selbst als Geflüchteter in einem Lager lebt und den Polizeiangriff in Donauwörth im März miterlebt hat.

Der Richter betritt den Saal, alle stehen auf. Er begrüßt die Anwesenden, die sich wieder setzen, und erklärt, dass der Verteidiger sich noch fünf Minuten mit seinem Mandanten besprechen wolle. Um 9:08 Uhr kommt der Verteidiger und sagt, der Dolmetscher spreche Französisch, das sei schonmal gut. Dann wird der Angeklagte von vier Justizbeamten in den Saal geführt; aus Respekt stehen die solidarischen Prozessbeobachter*innen auf. Der Angeklagte trägt nun Fußfesseln und kann sich deshalb nur langsam bewegen. Er nimmt zwischen dem Verteidiger und dem Dolmetscher Platz.

Der Richter stellt die Anwesenheit fest. Der Dolmetscher ist von seiner Ausbildung her eigentlich Chemielaborant, arbeitet aber als Dolmetscher. Er wird für Französisch vereidigt – normalerweise ist er Dolmetscher für Arabisch.

Der Richter ruft die Polizeizeug*innen auf, um sie zu „belehren“. Allerdings belehrt er sie nicht formal, sondern sagt lediglich, dass sie als Polizeibeamt*innen ja ihre Rechte und Pflichten kennen würden. [Anmerkung: Er holt die korrekte Belehrung auch an späterer Stelle nicht nach.] Die Zeug*innen gehen wieder raus. Anschließend stellt der Richter die Personalien des Angeklagten fest. Er kommt aus Guinea, wurde 1987 geboren und hat keinen Beruf erlernt. [Anmerkung: Der Dolmetscher verwendet den Begriff „boulot“ (bedeutet Arbeit, Job) und nicht den korrekten Begriff „profession“, auch später übersetzt er zumindest stellenweise unpräzise]

Der Richter stellt fest, dass die Staatsanwaltschaft am 28. Juni Anklage erhoben hat, am 23. Juli wurde diese zur Hauptverhandlung zugelassen.

Die Staatsanwältin verliest die Anklageschrift: Der Angeklagte sei am 3. Mai 2018 in seinem Zimmer in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Ellwangen angetroffen worden. Er habe sich aktiv gegen seine Fixierung durch Polizeibeamte gewehrt. Der Zweck des Polizeieinsatzes sei die Überprüfung der Personalien der Bewohner gewesen. Die Handlungen des Angeklagten würden die Voraussetzungen des tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte erfüllen.

Der Richter belehrt den Angeklagten: er könne zu den Vorwürfen schweigen oder Angaben machen. [Anmerkung: Der Richter spricht den Angeklagten nicht direkt an, sondern überwiegend in der 3. Person über ihn] Der Angeklagte sagt, dass er sich äußern möchte. Daraufhin beginnt der Richter, den Angeklagten zu befragen. Der Angeklagte sei ja seit Januar 2018 in Deutschland. Der Richter will wissen, warum der Angeklagte nach Deutschland kam, ob es in Guinea „nicht mehr tragbar“ gewesen sei. Der Angeklagte sagt, er habe familiäre Probleme gehabt. Der Richter will daraufhin wissen, auf welchem Reiseweg der Angeklagte kam. Der Angeklagte gibt an, er sei über Bamako (Mali), Algerien, Marokko und Spanien nach Deutschland gekommen. Auf Nachfrage des Richters ergänzt er, dass sein Asylantrag abgelehnt wurde, allerdings habe er einen Anwalt mit seinem Asylfall beauftragt. Über den genauen Stand des Verfahrens wisse er wegen seiner Inhaftierung nicht Bescheid, die Ablehnung sei aber (vermutlich) noch nicht bestandskräftig. Der Richter fragt, wo sich die Familie des Angeklagten befinde. Der Angeklagte antwortet, dass einige Mitglieder seiner Familie in Guinea seien, ein paar seien gestorben. Er habe zwei Brüder, deren Aufenthaltsort er nicht kenne. Bezugspersonen und Freunde in Deutschland habe er nicht.

Die Staatsanwältin und der Verteidiger haben keine Fragen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten. Der Richter erkundigt sich noch, ob der Angeklagte in der U-Haft (JVA Schwäbisch Hall) soziale Kontakte hatte. (Er wurde am 3. Mai vorläufig festgenommen und befand sich seit dem 4. Mai in U-Haft.) Der Angeklagte sagt, er habe abgesehen von seinen zwei Zellengenossen kaum Kontakte gehabt.

Der Richter kommt dann auf den Tatvorwurf zu sprechen. Der Angeklagte habe ja am Morgen des 3. Mai in seinem Zimmer geschlafen und sei dann aufgewacht. Der Richter bittet den Angeklagten zu schildern, was danach passierte. Der Angeklagte macht folgende Angaben: Im Zimmer seien sie zu fünft gewesen und hätten geschlafen. Die Polizei habe sie geweckt. Zuerst sei eine Gruppe von vier Beamten in das Zimmer gekommen. Die fünfte Person habe etwas abseits geschlafen, die Polizeibeamt*innen hätten versucht sie mitzunehmen. [Anmerkung: Es handelt sich um Herrn Bah, der eine Woche zuvor verurteilt wurde] Er sei auf den Boden gebracht und gefesselt worden. Die anderen seien auf den Betten geblieben. Dann sei die zweite Gruppe von Polizisten ins Zimmer gekommen. Er selbst habe auf einem der unteren Betten gesessen. Ein Polizist habe sich gleich an ihn gewendet und ihn zweimal auf die Brust geschlagen. Er, der Angeklagte, habe „leave me please“ gerufen. Der Polizist habe dann nochmal geschlagen. Er habe daraufhin versucht zu fliehen. An der Tür hätten ihn aber Polizisten abgefangen und auf den Boden geworfen. Dann habe er überall Schläge gespürt.

Der Richter fragt nach Verletzungen. Der Angeklagte sagt, er habe sich am Knie verletzt und zeigt eine Narbe. Der Richter will wissen, ob der Angeklagte Polizeibeamte getreten habe. Der Angeklagte verneint dies. Er habe lediglich zwei Schritte machen können, danach sei er schon am Boden gewesen und habe nur versucht, seinen Kopf zu schützen. Der Richter fragt, wie die Schläge auf die Brust gewesen seien. Der Angeklagte sagt, die Schläge seien stark gewesen, der Polizist habe mit zwei Händen geschlagen. Der Richter will nun wissen, ob der Angeklagte zuvor schon einmal im Gefängnis war oder schon einmal Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat. [Er fragt an den Dolmetscher gewandt: „War er denn schonmal inhaftiert?“] Der Angeklagte sagt, das sei das erste Mal.

Die Staatsanwältin hat keine Fragen.

Der Verteidiger fragt den Angeklagten, ob die Polizei etwas habe sagen hören. Der Angeklagte antwortet, die Polizisten hätten nichts zu ihm gesagt. Der Verteidiger fragt, ob der Angeklagte Deutsch oder Englisch spreche. Der Angeklagte antwortet, er spreche nur Französisch. Dann erkundigt sich der Verteidiger nach der „emotionalen Situation“ zum Zeitpunkt des Wegrennens. Der Angeklagte sagt, er habe nicht einmal die Möglichkeit gehabt sich anzuziehen, er habe nur Unterwäsche getragen und sei fast nackt gewesen. Der Verteidiger fragt dann nach der allgemeinen Situation, will wissen, ob es laut gewesen sei. Der Angeklagte sagt, er habe anfangs Schreie („Polizei, Polizei“) gehört, das sei alles gewesen. Das Ganze habe nicht einmal fünfzehn Minuten gedauert. Der Verteidiger hakt nochmal nach, ob der Angeklagte nichts gehört oder nichts verstanden habe. Der Angeklagte gibt nun an, dass er nichts verstanden habe. Der Verteidiger fragt, wie der Angeklagte gefesselt wurde, als er am Boden lag. Der Angeklagte macht vor, wie seine Arme seien auf den Rücken gedreht wurden. Er sei an den Händen mit Kabelbindern so eng gefesselt worden, dass dies seine Handgelenke verletzt habe, die Füße seien nicht gefesselt worden. Auf weitere Nachfrage: Sein Ausweis habe sich in der Hose befunden, er habe ihn nicht holen können.

Beweisaufnahme

Der erste Zeuge, Herr A., wird aufgerufen. Er wurde 1992 geboren und ist bei der Bereitschaftspolizei Bruchsal. Er macht folgende Angaben: Der Auftrag habe darin bestanden, das oberste Stockwerk „abzusichern“. Sein Kollege Herr B. und er seien erst in einem anderen Zimmer eingesetzt gewesen, dann seien sie zur Unterstützung in das Zimmer 314 (Zimmer des Angeklagten) gerufen worden. Bei Betreten des Zimmers sei ein Bewohner am Fenster schon fixiert gewesen [gemeint ist Herr Bah]; er habe sich nach rechts orientiert. Der Angeklagte habe sich im Bett unten befunden, er habe ihn auf Deutsch und Englisch aufgefordert, das Bett zu verlassen. Der Angeklagte habe jedoch nicht reagiert. Er, der Zeuge, habe sich dann hinunter gebeugt, um den Angeklagten zu greifen. In dem Moment habe der Angeklagte angefangen zu „strampeln“, habe sich losgewunden. Kurz darauf habe er, der Zeuge, den Angeklagten aber wieder greifen können. Er habe ihn dann zu Boden gebracht. Gemeinsam mit dem Kollegen B. habe er versucht, den Angeklagten zu fesseln. Trotz mehrmaliger Aufforderung in englischer Sprache, die Hände rauszugeben, habe der Angeklagte die Hände vor dem Korpus verschränkt gehalten, außerdem habe er „fuck the police“ gesagt.

Der Richter bittet den Zeugen, das Strampeln näher zu beschreiben. Der Zeuge sagt, es habe sich um ein „normales Strampeln“ gehalten, „wie man es kenne“. Auf Nachfrage: Er wisse nicht, ob das Strampeln zielgerichtet war; er sei nicht verletzt worden. Der Richter hakt nochmal nach: ob das Strampeln und das Wehren massiv gewesen seien. Der Zeuge erklärt, am Anfang sei es mäßig gewesen, aber als der Angeklagte die Hände vor seinem Korpus verschränkt habe, sei massive Kraftaufwendung nötig gewesen, um ihn zu fesseln. Der Richter sagt, das bisher Gehörte klinge eher nach Widerstand als nach einem tätlichen Angriff und bittet den Zeugen, das aus seiner Sicht zu beurteilen – er sei ja im Unterschied zu den Prozessbeteiligten in der Situation dabei gewesen. Der Zeuge bestätigt den Eindruck. [Anmerkung: Das kam mir komisch vor, denn es ist ja nicht Aufgabe eines Polizeibeamten, eine rechtliche Wertung des Geschehenen vorzunehmen.]

Der Richter belehrt den Zeugen dann nach § 55 StPO (Auskunftsverweigerungsrecht) und fragt ihn, ob er den Angeklagten auf die Brust geschlagen habe. Der Zeuge antwortet, dass er sich nicht erinnern könne, eine solche Handlung ausgeübt zu haben. Der Richter fragt anschließend nach der Bekleidung des Angeklagten, präzisiert seine Frage aber, bevor der Zeuge antworten kann: ob der Angeklagte nur Unterwäsche getragen habe. Der Zeuge sagt, das sei möglich. Auf weitere Nachfrage des Richters fügt der Zeuge hinzu, er habe den Eindruck gehabt, dass der Angeklagte ihn verstanden habe. „Fuck the police“ habe er mehrmals vernommen.

Die Staatsanwältin fragt, wie der Zeuge den Angeklagten gegriffen habe. Dieser antwortet, er glaube, dass er den Angeklagten an den Armen gegriffen habe. Der Richter sagt, er wolle doch noch einen Vorhalt machen und liest ein Zitat vor – vermutlich aus der zeugenschaftlichen Äußerung von Herrn A.: „ich konnte Tritte in Richtung meines Kopfes wahrnehmen“. Der Zeuge sagt, dass er sich daran heute nicht mehr mit Sicherheit erinnern könne.

Der Verteidiger fragt, ob es eine Einsatzbesprechung gegeben habe und erkundigt sich außerdem nach dem Zweck des Polizeieinsatzes. Der Zeuge gibt an, es sei um die Feststellung der Personalien der Bewohner gegangen; die Polizeibeamt*innen hätten im Vorfeld keine Kenntnis über die Zahl der Bewohner pro Zimmer gehabt. (…) Auf Nachfrage des Verteidigers sagt der Zeuge, er könne sich heute nicht mehr an die Zahl der Personen im Zimmer 314 (Bewohner und Polizeibeamt*innen) erinnern. Die Bewohner seien aus „Eigensicherungsgründen“ aufgefordert worden, aus den Betten aufzustehen. Die Beamt*innen hätten nicht gewusst, was die Bewohner gegebenenfalls unter den Bettdecken versteckt hielten. Zur Ausrüstung: Er habe nicht nur einen Helm, sondern auch einen Brustpanzer getragen.

Um 9:50 wird Herr A. unvereidigt entlassen. Der Richter bemerkt, dass es jetzt wahrscheinlich etwas schneller gehen werde. Der Verteidiger stimmt ihm zu. Der zweite Zeuge, Herr B., kommt in den Zeugenstand. Er ist 27 Jahre und ebenfalls bei der Bereitschaftspolizei in Bruchsal. Wie Herr A. war er zunächst in Zimmer 305 eingesetzt und wurde dann in das Zimmer 314 geschickt, um dort zu unterstützen. Der Zeuge macht weiterhin folgende Angaben: Bei Betreten des Zimmers 314 habe er sich nach links gewandt. Er habe die sich dort befindliche Person aufgefordert, das Bett zu verlassen und sich auf den Boden zu legen; die Person sei der Anweisung ruhig nachgekommen. Dann sei er Herrn A. zu Hilfe geeilt, da dessen Person – der Angeklagte – seine Arme unter dem Brustbereich „gesperrt“ habe. Der Angeklagte habe die Aufforderung, seine Arme herauszugeben, registriert, habe sich aber geweigert und „fuck the police“ gesagt. Herr A. und er, Herr B., hätten dann einfache Gewalt angewendet und die Arme des Angeklagten auf den Rücken gedreht. Der Angeklagte habe sich gesperrt, aber nicht gewehrt. Auf Nachfrage des Richters ergänzt der Zeuge: Er habe wahrgenommen, dass der Angeklagte gestrampelt habe, als er noch im Bett war; zielgerichtete Schläge oder Tritte habe er jedoch nicht gesehen. Auf weitere Nachfrage gibt er an, die Anweisungen gegenüber dem Angeklagten seien in deutscher und englischer Sprache erfolgt.

Die Staatsanwältin und der Verteidiger haben keine Fragen, Herr B. wird um 9:55 entlassen. Der dritte Zeuge, Herr S., geboren 1990, Bereitschaftspolizei Bruchsal, kommt in den Zeugenstand. Herr S. macht folgende Angaben: Er sei zuerst in Zimmer 316 gewesen. Dort sei es ruhig gewesen. Seine Kollegen und er hätten das Zimmer fertig durchsucht und seien dann in das Zimmer 314 gegangen. Bei seinem Eintreffen sei der Angeklagte schon gefesselt und ruhig gewesen. Er habe ihn dann (vermutlich zur Personalienfeststellung/ED-Behandlung) zum „Bearbeitungsmodul“ gebracht. Der Richter fragt, ob der Angeklagte einen Ausweis gehabt habe. Bevor der Zeuge antworten kann, fügt der Richter hinzu: „nur wenn Sie es wissen“. Der Zeuge gibt an, er könne sich nicht erinnern. Der Richter will weiterhin wissen, wie die „Stimmung“ des Angeklagten gewesen sei. Der Zeuge antwortet, „vom Körper her“ sei der Angeklagte etwas aufgeregt, ansonsten aber ruhig gewesen. Der Zeuge wird entlassen.

Die vierte Zeugin, Frau B., wird aufgerufen. Sie wurde 1990 geboren, ist ebenfalls bei der Bereitschaftspolizei Bruchsal und macht folgende Angaben: Sie sei Teil des Beweissicherungstrupps gewesen, dieser sei in Gemeinschaftsräumen (Waschraum, Toiletten und Abstellraum) eingesetzt worden. Da dort keine Personen anzutreffen gewesen seien, habe sie geschaut, wo sie unterstützen konnte. Sie habe dann Geschrei aus Zimmer 314 gehört und sei dorthin gegangen. Herr A. und Herr B. hätten gerade versucht, den Angeklagten am Boden zu fixieren. Sie habe die Beine fixiert. Der Angeklagte habe „dagegen geschoben“, richtig getreten habe er aber nicht. Die Kollegen hätten den Angeklagten mehrmals auf Deutsch und Englisch aufgefordert, die Arme herauszugeben. Das Sperren sei „ordentlich“ gewesen, denn die Kollegen, die ja beide kräftig seien, hätten die Arme zunächst nicht rausbekommen. Die Staatsanwältin fragt nach der Kleidung des Angeklagten. Die Zeugin sagt, daran könne sie sich nicht erinnern. Die Staatsanwältin erwidert: „kein Problem, passt, keine weiteren Fragen“ Frau B. wird um 10:03 entlassen.

Der letzte Zeuge, Herr H., wird aufgerufen. Er ist 56 Jahre und Kriminalbeamter in Aalen. Er war selbst nicht während der Festnahme im Zimmer des Angeklagten, soll aber offenbar allgemeinere Angaben zu der Razzia am 3. Mai mit 500 bis 600 Polizeibeamt*innen machen. Er gibt an, dass der Zweck des Einsatzes darin bestanden habe, nach dem Polizeigesetz Personalien zu überprüfen. Die Überprüfung habe sich auf die „Afrikaner“ in der Unterkunft beschränkt, tatsächlich seien drei Gebäude und ca. 290 Personen überprüft worden. Mehrere Personen seien aus dem Fenster gesprungen, auch aus dem zweiten Stock, andere seien über die Flure geflüchtet. Insgesamt seien etwa 20 Personen geflüchtet. Der Richter bemerkt, dass die Anklage von einem tätlichen Angriff ausgegangen sei, die Beweisaufnahme aber bislang eher auf Widerstand hindeute. Er fragt den Zeugen, ob er noch etwas hinzufügen wolle. Zum Angeklagten könne er wohl allerdings keine konkreten Angaben machen. Der Zeuge bestätigt, dass er zum Angeklagten nichts sagen kann. Er wird daraufhin entlassen.

Der Richter gibt einen rechtlichen Hinweis: Statt eines tätlichen Angriffs (§ 114 StGB) komme auch eine Verurteilung wegen Widerstands (§ 113 StGB) in Betracht. Das habe eine große Bedeutung wegen des Strafmaßes. Beim 114 gehe der Strafrahmen von drei Monaten bis fünf Jahre [der Richter sagt zuerst zehn Jahre, schaut dann aber im Gesetz nach und korrigiert sich], beim 113 reiche er von einer Geldstrafe bis drei Jahre. Der Richter liest den Wortlaut des Widerstandsparagrafen vor – inklusive Absatz 3, wonach eine Widerstandshandlung nicht bestraft werden darf, wenn die Amtshandlung, gegen die sich der Widerstand richtete, rechtswidrig war.

Der Richter stellt fest, dass das BZR keine Eintragungen bezüglich des Angeklagten enthält. Dann schließt er die Beweisaufnahme.

Plädoyer der Staatsanwältin

Während des Großeinsatzes am 3. Mai sei es in anderen Zimmern ruhig gewesen, nicht aber in Zimmer 314. Dort habe es ein erhebliches Geschrei gegeben. Deswegen sei Unterstützung gerufen worden, das hätten die Zeugen Herr A. und Herr B. so ausgesagt. Herr A. habe sich zum Angeklagten hinunter gebeugt. Dieser sei allerdings nicht vom Bett aufgestanden, sondern habe gestrampelt. Dagegen stehe die Aussage des Angeklagten selbst, der angebe, geschlagen worden zu sein. Dann habe der Angeklagte versucht zu fliehen, das hätten alle Zeugen übereinstimmend so angegeben. Daraufhin habe der Angeklagte sich erheblich gewehrt, als er gefesselt werden sollte. Das sei nach § 113 StGB ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, jedoch kein tätlicher Angriff, da keine Schläge und Tritte erfolgt seien. Zum Strafmaß: Der Angeklagte sei nicht vorbestraft und habe eine erhebliche Zeit in U-Haft verbracht; andererseits sei das Wehren erheblich gewesen. Die Staatsanwältin beantragt eine fünfmonatige Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden solle. Wegen des unvollendeten Asylverfahrens könne sie keine positive Sozialprognose „oder überhaupt irgendeine Sozialprognose“ stellen.

Plädoyer des Verteidigers

Der Verteidiger erklärt eingangs, die Einführung des § 114 StGB im vergangenen Jahr sei gut, weil „unsere Beamten“ geschützt werden müssten. Der Angeklagte sei wegen tätlichen Angriffs in U-Haft gewesen; nach Aktenlage habe sich das so dargestellt, die Staatsanwaltschaft habe also nichts falsch gemacht. In der Beweisaufnahme habe sich die Situation aber etwas anders dargestellt. Der Verteidiger sagt, er gebe der Staatsanwältin recht – sein Mandant habe sich gewehrt. Dabei seien unterschiedliche Formen möglich, man könne um sich schlagen oder gar nichts machen. Der Angeklagte sei geständig gewesen: er habe fliehen wollen, habe sich nicht fesseln lassen wollen. In Zimmer 314 habe sich eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Alles habe mit der Fesselung von Herrn Bah begonnen, hätte es diese nicht gegeben, hätte sich sein Mandant vermutlich anders verhalten.

In der U-Haft sei es für den Angeklagten schwierig gewesen. Außer Deutsch werde „im Knast in der Regel Türkisch und Russisch gesprochen“, das sei schwierig für jemanden, der nur Französisch verstehe. Das Gericht werde wohl eine Freiheitsstrafe verhängen, auch aus generalpräventiven Gründen. Der Verteidiger beantragt eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle. Eine positive Sozialprognose könne nicht alleine deshalb ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte aus Guinea komme und noch im Asylverfahren sei. Der Angeklagte sei in diese Sache unverschuldet hinein gerutscht.

Letztes Wort des Angeklagten: Der Angeklagte sagt, er wisse, dass er einen Fehler gemacht habe. Das habe an Verständigungsproblemen gelegen und daran, dass er große Angst gehabt habe. Er bereue, dass er versucht habe zu fliehen, das werde nicht wieder vorkommen. Er entschuldigt sich bei den Polizeibeamten.

Der Richter verkündet direkt im Anschluss das Urteil. Der Angeklagte werde zu 90 Tagessätzen à 5 Euro verurteilt. Der Angeklagte trage die Kosten des Verfahrens. Zur Begründung: Der Angeklagte habe gestrampelt und versucht, Beamt*innen wegzudrücken, um eine rechtmäßige Diensthandlung der Polizei zu verhindern. Er habe versucht wegzurennen, sei dann aber durch drei Beamt*innen am Boden fixiert worden. Dabei habe er sich massiv gesperrt. Der Angeklagte sei zuvor strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten – er sei aber auch erst seit Januar in Deutschland. Die U-Haft sei für den Angeklagten relativ schwer gewesen. Der Widerstand sei jedoch von mittlerer Schwere gewesen – jedenfalls nicht gering. Der Richter fährt fort: Die verhängte Strafe von 90 Tagessätzen entspreche in etwa den Strafen, die andere Beschuldigte in Form eines Strafbefehls von ihm erhalten hätten. Das sei der Grund, warum er sich für in diesem Fall eine Geldstrafe entschieden habe, die beantragten Freiheitsstrafen seien aber durchaus auch angemessen gewesen. Die 90 Tagessätze seien durch die U-Haft bereits verbüßt, der Angeklagte erhalte aber „selbstverständlich“ keine Entschädigung für die Tage in U-Haft, die über die 90 Tage hinausgingen.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung. Der Angeklagte und sein Verteidiger erklären, dass sie auf Rechtsmittel verzichten.

Ende der Verhandlung um 10:30 Uhr.