Verfahren gegen Ayfer H. – Berufungsverfahren – 01.12.16

Landgericht Berlin-Moabit, Turmstr. 91

01.12.16 13.30-15:00h

Anwesende:

  • Gericht: Ein Berufsrichter und zwei Schöff*innen (ein Schöffe, eine Schöffin) R, S1, S2
  • Eine Protokollantin
  • Eine Staatsanwältin StAin
  • Ein Verteidiger V
  • Eine Angeklagte A
  • Eine Dolmetscherin
  • Zwei Justizbeamt*innen
  • Zwei Zuschauer*innen (Justizwatch und KOP)
  • Sachverständiger Zeuge Z

Beginn der Verhandlung um 13:35

Der Prozess beginnt mit der Vernehmung des sachverständigen Zeugen, des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Z. Er wird belehrt und seine Personalien werden aufgenommen. Er gibt an, dass er seit Juli 1997 der behandelnde Arzt der Angeklagten sei und diese unter einer schweren rezidivierenden Depression leide. R fragt ihn, ob er sich daran erinnern könnte, dass die Angeklagte ihm von einem Streit mit Polizeibeamten erzählte. Der Zeuge bestätigt dies: sie habe ihm am 19.03.2012 von einem Vorfall mit der Polizei erzählt sowie von den davon erlittenen Verletzungen am Auge. Im August desselben Jahres hätten sie noch mal über das Thema gesprochen, der Angeklagten habe dieser Vorfall immer noch „in den Knochen“ gesteckt. R fragt, ob der Sachverständige Z ihre Angaben damals für glaubwürdig gehalten habe, Z bejaht dies.

[V bittet um Wiederholung der Frage, habe akustisch nichts verstanden. R wiederholt die Frage. An V gerichtet ergeht der flapsige Kommentar, die Schwerhörigkeit sei wohl altersbedingt]

R führt die Vernehmung des Zeugen fort, fragt ihn nun, ob die Krankheit der Anklagten mit Wahrnehmungsstörungen einhergehe. Z verneint dies und erklärt die Wirksamkeit der Medikation [in medizinischer Fachsprache: Nur Endokrine Erkrankungen würden mit Halluzinationen etc. einhergehen, eine solche habe sie aber nicht. Bei Depressionen würden nur in absoluten Ausnahmefällen Wahrnehmungsstörungen auftreten]. R fragt Z, ob die Angeklagte ihm von Beleidigungen durch die Beamten erzählt habe, Stichwort sei hierbei: „Scheißtürkin“. Z antwortet, daran habe er keine Erinnerungen mehr [es folgen akustisch unverständliche Ausführungen des Zeugen]. R weist daraufhin, dass die prozessuale Situation recht kompliziert sei. Es gehe nicht mehr um den Vorfall im März 2012, für diesen sei die Angeklagte bereits rechtskräftig verurteilt worden. Vorliegend gehe es um die Aussage der Angeklagten im vergangenen Verfahren, sie sei von den Beamten geschlagen worden.

R fragt Z, ob es vorstellbar sei, dass die Erregung über den Vorfall damals die A auch Jahre später noch beeinflusse. Z antwortet mit längeren Ausführungen über posttraumatische Belastungsstörungen, bittet dann jedoch um eine Wiederholung der Frage. R wiederholt die Frage und Z konkretisiert seine Antwort dahingehend, dass er vermutet, dass ihre Erinnerungen unverdaut wieder „rausgekommen“ seien. Ob sie die Vorfälle damals überbewertet habe, sei reine Spekulation.

R entgegnet, dass es neben den beiden Polizeibeamten noch weitere Zeugen gegeben habe, unter anderem den Schulleiter sowie eine Sozialarbeiterin. Beide hätten übereinstimmend berichtet, dass die Vorwürfe nicht stimmten, die Angeklagte aggressiv auf die Beamten reagiert habe und diese sie lediglich zu Boden gebracht hätten. Es gebe also zwei Varianten über den Verlauf des Vorfalles: 1. Variante: der Vorfall sei so, wie die A ihn darstellt, nicht geschehen. Dafür spreche, dass der beteiligte Polizeibeamte auf ihn einen ungewöhnlich ruhigen Eindruck gemacht habe, dies würde dafür sprechen, dass es so nicht geschehen sei. [2. Variante scheint R vergessen zu haben, war zumindest akustisch nicht zu vernehmen]. R fragt Z, ob es sein könne, dass A aus Stress heraus im Prozess die Situation übertrieben habe.

Z antwortet mit einem Beispiel aus der Praxis: Die Wahrnehmung von Opfern könne divergieren. Es sei situationsbedingt. Der Vorfall könne also passiert sein, ohne dass die A „spinnt“. R erwidert, es gehe nicht darum, dass sie spinne. Die Frage sei, ob die Angeklagte im fraglichen Prozess bei der Schilderung der Ereignisse überreagiert habe. Z holt daraufhin erneut aus und betont, dass eine etwaige falsche Aussage der Angeklagten auf die akute Stresssituation damals vor Gericht zurückzuführen sei.

R fragt die beteiligten Schöff*innen, ob sie noch eine Frage an den Sachverständigen hätten. Die Schöffin fragt den Sachverständigen daraufhin, ob die Angeklagte Tabletten nehme. Z antwortet, er wisse davon nichts, jedenfalls bekomme sie keine von ihm. R fragt den Verteidiger, ob dieser noch Fragen habe. V fragt, ob Z von dem Rückenleiden der Angeklagten wisse. Z bejaht dies. V fragt daraufhin, ob es möglich sei, dass die Angeklagte Panik bekomme, wenn sie befürchte, durch Schulterpacken Schmerzen im Rücken zu bekommen. Z [murmelt etwas unverständlich], er vermute, es seien die mangelhaften Deutschkenntnisse der Angeklagten sowie der Stress durch den Polizeikontakt, der damals Stress ausgelöst habe. Die Angeklagte sei in der Situation gänzlich hilflos gewesen, da sie die Aufforderungen der Polizei nicht verstanden habe.

V konkretisiert die Frage und ergänzt sie dahingehend, ob Z wisse, dass die Angeklagte starke Schmerzmittel nehme. Z erwidert, Geschäftsfähigkeit beeinträchtigende Mittel bekomme sie auf jeden Fall nicht von ihm. V fragt Z, ob es eine Möglichkeit gebe, aufzuklären, ob sie damals bewusst oder unbewusst falsche Bezichtigungen angestellt habe. Z antwortet, man könne retrospektiv nur Mutmaßungen anstellen. Auch ein „guter“ Gutachter könne diese Frage rückblickend nicht mehr aufklären. Fest stehe, dass Ayfer H. dies alles für subjektiv wahr gehalten habe. V beendet die Befragung. R entlässt den Zeugen, er bleibt gemäß §§ 59 Abs. 1, 79 StPO unvereidigt.

R unterbricht die Sitzung, um mit den Schöff*innen über die Beweisanträge der Verteidigung zu beraten. [Während der Pause fragt die Staatsanwältin im Saal die Protokollantin, ob bereits jetzt mit einem Urteil zu rechnen sei, dies sei ungünstig, da sie heute nur in Vertretung da sei. Die Protokollantin erwidert, dies sei schwer zu sagen, zuzutrauen sei es dem Richter jedoch schon.]

R führt die Sitzung fort. Es ergeht der Beschluss, dass alle Beweisanträge abgelehnt werden. Teilweise wegen rechtlicher und tatsächlicher Bedeutungslosigkeit. Antrag 5 wird als bereits erfüllt angesehen.

Beweisantrag 1: Ladung des Familienhelfers

Beweisantrag 2: Auskunft des Jugendamtes

Beweisantrag 3: Ladung des Schmerztherapeuten

Beweisantrag 4: Orthopäde

Eventualbeweisantrag 5: Arzt der Charité

V beantragt eine Gegenvorstellung (1) zur Ablehnung der Anträge 1, 2, 3, 4, 6. Die Anträge seien wichtig um den Gemütszustand der Angeklagten aufzuklären.

[S2 erleidet eine Hustenattacke, Sitzung wird unterbrochen, kurz darauf jedoch fortgesetzt]

V wendet sich erneut an R und erzählt ihm von Kontaktaufnahme der Verteidigung mit dem Oberstaatsanwalt Kamstra. Die Verteidigung hatte Angebot gemacht, das Verfahren mit Schuldeingeständnis der Angeklagten einzustellen. Die Staatsanwaltschaft habe dies jedoch abgelehnt.

R verliest einen Hürriyet Artikel, in dem das Geschehen in der Schule wiedergegeben wird. Der fragliche Artikel erwähnt auch eine Rede des damaligen Mitgliedes des Abgeordnetenhauses von Berlin, Özcan Mutlu, in der er das Geschehen anprangerte und eine Aufklärung der Vorgänge forderte, auch damit angesichts der Nazimorde des NSU das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden nicht schwinde. [Beim Stichwort Nazimorde schüttelt die StAin den Kopf und schaut irritiert zum vortragenden Richter.]

R geht im Dialog mit der Angeklagten auf die persönlichen Umstände der Angeklagten ein. Dabei werden folgende Themen besprochen: Depressionen, Situation als getrennt Lebende, drei Kinder (der jüngste Sohn wohnt noch bei ihr und beginnt demnächst eine Ausbildung), die finanzielle Situation, die Wirbelsäulenerkrankung der A.

R verliest einen Bericht der Polizei, die Zeugin P. sei immer noch unauffindbar. Das Urteil werde heute noch nicht ergehen, auch weil die Staatsanwaltschaft heute nur als Vertretung anwesend sei. [R unterbricht die Sitzung erneut und zieht sich bezüglich der Gegenvorstellungen der Beweisanträge mit den Schöff*innen zurück.] Es ergeht der Beschluss, dass bei den Beweisanträgen keine Änderung vorgenommen wird.

 

(1) „Die Gegenvorstellung ist ein formloser Rechtsbehelf. Die Gegenvorstellung wendet sich an die Behörde, die einen zu beanstandenden Verwaltungsakt erlassen, eine Entscheidung getroffen oder ein Handeln veranlasst hat mit dem Ziel, den Verwaltungsakt / die Entscheidung / die Handlung nochmals auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu überprüfen“ – Wird in Strafverfahren oft als Rechtsmittel gegen Beweisbeschlüsse des Gerichts eingelegt https://de.wikipedia.org/wiki/Gegenvorstellung