VG Stuttgart legitimiert rassistische Polizeigewalt in Ellwangen und gibt Freibrief für Razzien in Erstaufnahmezentren ab 6 Uhr morgens

Prozessbericht vom 18.2.2021 / Justizwatch & Culture of Deportation

* English below *

Am 18. Februar 2021 wurde vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart über die Klage von Alassa Mfouapon gegen die massive Polizeirazzia in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Ellwangen am 3. Mai 2018 verhandelt. 500 bis 600 teils schwerbewaffnete Beamt*innen waren gegen 5 Uhr morgens  in die Schlafräume eingedrungen, hatten etwa 300 Personen aus dem Bett geworfen, sie mit Kabelbindern gefesselt und die Zimmer durchsucht. Etliche Bewohner*innen wurden verletzt und die ganze Community traumatisiert. Viele wurden außerdem festgenommen und später von der Justiz kriminalisiert. Für die Behauptung der Polizei, Schwarze Bewohner*innen der LEA hätten drei Tage zuvor eine Abschiebung “mit Gewalt” verhindert und “Waffen” gehabt, fanden sich später keine Belege. Alassa Mfouapon war ebenfalls von der Razzia betroffen.

Die Schwarze Community in der LEA hatte den Einsatz öffentlich als rassistische Polizeigewalt kritisiert und Protest dagegen organisiert. Die brutale Polizeiaktion war aber nicht nur politisch zu kritisieren, sondern auch in rechtlicher Hinsicht fragwürdig, denn die Polizei handelte ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Dagegen richtete sich die Klage von Alassa Mfouapon.

Das Gericht hat die Maßnahme vom 3. Mai 2018 nun in einer am 19. Februar 2021 veröffentlichten Pressemitteilung als rechtswidrig eingestuft. Allerdings begründete es dies allein mit der Uhrzeit: Die Razzia sei in der Nachtzeit erfolgt (21 bis 6 Uhr), das sei unverhältnismäßig. Zugleich vertritt das Gericht die Auffassung, dass die Zimmer in der LEA nicht durch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung geschützt seien (Artikel 13 GG). Mit dieser Wertung weicht es von der Rechtsprechung mehrerer Verwaltungsgerichte und auch des Oberverwaltungsgerichts Hamburg ab. Diese hatten die Ansicht vertreten, dass es sich bei Zimmern in Sammelunterkünften um geschützte Wohnungen im Sinne des Grundgesetzes handelt.

In der Verhandlung rechtfertigte das VG Stuttgart seine abweichende Einschätzung damit, dass die Bewohner*innen in der LEA keine „Schlüsselgewalt“ hätten. Außerdem schränke die Hausordnung die Rechte der Bewohner*innen stark ein, unangekündigte Zimmerkontrollen und Besuche von Sicherheitsdiensten könnten jederzeit stattfinden. Die LEA-Zimmer seien daher eher mit Hafträumen vergleichbar. Diese massiven Eingriffe in die Rechte der Bewohner*innen hielt das Gericht zugleich nicht für weiter problematisch, denn – hier folgte es der Argumentation des Landes Baden-Württemberg – es handele sich um vorübergehende Unterkünfte, aus denen die Menschen „schnell verteilt“ würden. Das Gericht ignorierte dabei die rechtliche Verpflichtung, bis zu 18 Monate oder im Falle von Menschen aus „sicheren“ Herkunftsstaaten sogar unbegrenzt in Aufnahmeeinrichtungen zu leben.

Das Urteil ist daher in erster Linie bequem für das Gericht – es kommt dem Kläger entgegen, ohne grundsätzliche Kritik an der Polizeipraxis zu üben. Darüber hinaus legitimiert es auf gefährliche Weise Polizeigewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete: Brutale Großrazzien wie die in Ellwangen 2018 sind der Argumentation zufolge zulässig, solange sie nicht zur Nachtzeit stattfinden. Das kommt aus unserer Sicht einem Freibrief für Einschüchterungsaktionen und Polizeigewalt gleich!

Aufschlussreich war ferner die Diskussion über die rechtliche Begründung und das Ziel der Razzia am 3. Mai 2018. Die zwei Beamten, die das Zimmer des Klägers am 3. Mai 2018 durchsucht hatten, erklärten vor Gericht, dass es bei der Maßnahme um eine Durchsuchung ging. Laut dem ersten Zeugen gab es zuvor eine Besprechung, bei der der Auftrag erteilt wurde, “Tat- und Beweismittel“ bezüglich der  „Gefangenenbefreiung“ vom 30. April zu finden. An diesem Tag hatte die Polizei in der LEA einen Abschiebeversuch abgebrochen – angeblich, weil andere Bewohner*innen mit Gewalt den Betroffenen befreit hätten. Der zweite Zeuge bestätigte diese Darstellung. Er erwähnte ferner, dass „selbstgebastelte“ waffenähnliche Gegenstände gesucht worden seien – ebenfalls im Zusammenhang mit dem gescheiterten Abschiebeversuch wenige Tage zuvor.

Im später folgenden Rechtsgespräch setzte sich der vorsitzende Richter jedoch über diese eindeutigen Zeugenaussagen hinweg und behauptete, es habe sich dabei nur um die „persönliche Erinnerung eines Beamten“ gehandelt. Er gehe vielmehr davon aus, dass das Ziel der Großrazzia nicht die Sicherung von Beweismitteln, sondern Personenkontrollen und somit eine polizeirechtliche Maßnahme gewesen sei.

Der vorsitzende Richter legitimierte auch einen weiteren entscheidenden Baustein des polizeilichen Narrativs: dass die LEA während der Razzia ein sogenannter „gefährlicher Ort“ gewesen sei, wo „erfahrungsgemäß“ Straftaten verübt oder geplant würden. Wann, wie, warum und durch wen die Einrichtung so eingestuft wurde, wurde in der Verhandlung nicht geklärt. Die Vertreterin des Landes Baden-Württemberg erklärte in der Verhandlung lediglich, dass die Polizei „jede Menge Belege“ dafür gehabt habe. Der Anwalt von Mfouapon erwähnte in der Verhandlung eine E-Mail, die das Polizeipräsidium Aalen am Abend des 2. Mai 2018 kurz nach 21 Uhr an alle Beteiligten in der Einsatzplanung schickte. Darin sei problematisiert worden, dass es noch keine Rechtsgrundlage gebe; zugleich habe der Verfasser vorgeschlagen, sich zur Begründung auf das Konstrukt des „gefährlichen Ortes“ zu beziehen. Die E-Mail wurde nicht beantwortet, aber der Einsatz wurde am 3. Mai am frühen Morgen wie geplant durchgeführt. Dies deutet daraufhin, dass die Polizei die Aktion einfach machen wollte. Die rechtliche Zulässigkeit war dabei offenbar zweitrangig und wurde erst im Nachhinein herbeikonstruiert. Auch diese Polizeipraxis wurde durch das Gericht nicht hinterfragt und somit legitimiert.

Die Gerichtsverhandlung dauerte von 10 bis 17 Uhr. Den ganzen Tag fand vor dem Gebäude eine Kundgebung statt. Die vorhandenen Besucher*innen- und Presseplätze waren voll besetzt, überwiegend von weißen Personen. Vor dem Saaleingang wurden Ganzkörperdurchsuchungen durchgeführt. Zu Beginn wollte ein Justizbeamter solidarischen Prozessbeobachter*innen das Mitschreiben verbieten. Erst nach einer längeren Verhandlung, in der der Beamte sich durchgehend laut und aggressiv verhielt, die Beobachterin aber darauf beharrte, er sei nicht entscheidungsbefugt, wurde das Mitschreiben schließlich doch erlaubt.

Wir erklären unsere Solidarität mit der Schwarzen Community und mit Alassa Mfouapon in seinem weiteren Klageweg!

Wir fordern: Schluss mit rassistischen Polizeikontrollen und Polizeigewalt in Lagern und überall!

Die nach der Razzia wegen Widerstands Verurteilten müssen rehabilitiert werden!

Links:

“There was a lot of talk about us, now we are speaking!” PK der Schwarzen Community vom 9.5.2018

Prozessbericht 8.8.2018 AG Ellwangen

PM 8.1.2019: Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes in Ellwangen

Prozessaufruf für 19.3.20198: Geflüchtete klagen gegen ihre Strafbefehle

Press release on the Protest in Ellwangen March 19, 2019

 

— ENGLISH —

Stuttgart Administrative Court legitimises racist police violence in Ellwangen and gives carte blanche for raids in reception centres from 6 a.m. onwards

Trial report by Justizwatch & Culture of Deportation

On 18 February 2021, the Stuttgart Administrative Court heard Alassa Mfouapon’s lawsuit against the massive police raid of the Ellwangen State Reception Centre (LEA) on 3 May 2018. Between 500 and 600 officers, some of them heavily armed, entered the dormitories around 5 a.m.in the early hours of the morning, threw about 300 people out of bed, tied them up with plastic cable and searched their rooms. Several residents were injured and the whole community traumatised. Many were also arrested and later criminalised by the justice. The police claims that Black residents of the LEA had prevented a deportation three days earlier “with violence” and had “weapons” were later not substantiated. Alassa Mfouapon was also affected by the raid.

The Black community in the LEA had publicly criticised the raid as racist police violence and organised protests against it. The brutal police action was not only politically criticised, but also legally questionable, because the police acted without a warrant. Alassa M.’s complaint was directed against this.

In a press release published on 19 February 2021, the court now classified the measure of 3 May 2018 as unlawful. However, it based this solely on the time of day: the raid had taken place at night (9 pm to 6 am), which was disproportionate. At the same time, the court took the view that the rooms in the LEA were not protected by the fundamental right to inviolability of the home (Article 13 of the Basic Law). With this assessment, it deviates from the case law of several administrative courts and also the Higher Administrative Court of Hamburg. These had taken the view that rooms in collective accommodation are protected dwellings in the sense of the Basic Law.

In the hearing, the Stuttgart Administrative Court justified its different assessment by stating that the residents in the LEA were not in possession of room keys and could not lock their doors. In addition, the house rules (Hausordnung) severely restrict the rights of the residents; unannounced room checks and visits by security guards can take place at any time. The court argued that the rooms in the LEA are therefore more comparable to detention spaces. At the same time, the court did not consider these massive encroachments on the rights of the residents as problematic, because – here it followed the argumentation of the state of Baden-Württemberg – these were temporary accommodations from which people were “quickly distributed”. The court ignored the legal obligation to live in reception facilities for up to 18 months, or even indefinitely in the case of people from “safe countries of origin”.

This ruling is therefore first and foremost convenient for the court – it makes a concession to the plaintiff without fundamentally criticising police practice. Moreover, it dangerously legitimises police violence in the reception facilities for refugees (Erstaufnahmeeinrichtung): brutal large-scale raids like the one in Ellwangen in 2018 are permissible according to the argumentation, as long as they do not take place at night time. In our view, this is tantamount to a carte blanche for intimidation and police violence!

Furthermore, the discussion about the legal justification and the aim of the raid on 3 May 2018 was revealing. The two officers who searched the plaintiff’s room on 3 May 2018 stated in court that a room search (Durchsuchung) had indeed been the objective of the measure. According to the first witness, in a preparatory meeting the order was given to find “instruments of crime and evidence” regarding the “freeing of a prisoner” on 30 April. On that day, the police had interrupted a deportation attempt in the LEA – allegedly because other residents had used force to free the person concerned. The second witness confirmed this account. He also mentioned that “self-made” weapon-like objects had been searched for, in connection with the failed deportation attempt a few days earlier.

In the discussion that followed later, however, the presiding judge disregarded this clear testimony and claimed that it had only been the “personal recollection of an officer”. He rather assumed that the aim of the large-scale raid had not been to secure evidence but to check persons and identities and thus it had been a police law measure.

The presiding judge also legitimised another crucial component of the police narrative: that the LEA had been a so-called “dangerous place” (gefährlicher Ort) during the raid, where “according to experience” crimes were committed or planned. When, how, why and by whom the facility had been classified as such was not clarified in the trial. The representative of the state of Baden-Württemberg only stated in the trial that the police had had “plenty of evidence” for this. Mfouapon’s lawyer mentioned in the trial an email that the Aalen police headquarters sent to all those involved in the operational planning shortly after 9 pm on the evening of 2 May 2018. This email had problematised that there was still no legal basis for the planned raid; at the same time, the author had suggested to refer to the construct of the “dangerous place” as a justification. The email was not answered, but the operation was carried out on 3 May in the early morning as planned. This suggests that the police simply insisted on realising the operation. Its legality was apparently secondary and was only constructed after the fact. This police practice was also not questioned by the court and thus legitimised.

The court hearing lasted from 10 am to 5 pm. An all-day rally took place in front of the building. The available visitor and press seats were fully occupied, predominantly by white persons. Full body searches were carried out in front of the courtroom entrance. At the beginning, a court official wanted to prohibit persons monitoring the trial in solidarity with the plaintiff from taking notes. Only after a long negotiation, in which the officer was consistently loud and aggressive, but the observer insisted that the observer was not authorised to make such decisions, was the note-taking finally allowed.

We declare our solidarity with the Black community and with Alassa Mfouapon in his further legal action!

We demand an end to racist police controls and police violence in camps and everywhere!

Those convicted of resistance against police officers during the raid must be rehabilitated!

Links:

“There was a lot of talk about us, now we are speaking!” PK der Schwarzen Community am 9.5.2018

Prozessbericht 8.8.2018 AG Ellwangen

PM 8.1.2019: Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes in Ellwangen

Prozessaufruf für 19.3.2018: Geflüchtete klagen gegen ihre Strafbefehle

Press release on the Protest in Ellwangen March 19, 2019