Bei Anklagen gegen vermeintliche Dealer nimmt der Rechtsstaat es nicht so genau und verhängt auch ohne Beweise hohe Strafen
Von Maruta Sperling
Ibad E. wird am 19. November 2014 im Berliner Görlitzer Park mit mehreren anderen Personen festgenommen. Alle Festgenommenen sind Schwarz. 2015 und 2017 steht Ibad E. vor Gericht. Der Vorwurf: Handel mit Cannabis. Die Anklage fußt allein auf der Aussage eines Polizeibeamten, der behauptet, ihn beim Handel beobachtet und später nach der Festnahme wiedererkannt zu haben. Er gibt an, den Angeklagten aus 15 Meter Entfernung anhand seines grünen Halstuchs identifiziert zu haben. Ibad E. bestreitet die Vorwürfe.
Bei Verfahren wegen Cannabis-Handel in Berlin gleicht ein Prozess dem anderen: Angeklagt sind in der Regel junge Schwarze Männer mit unsicherem oder ungültigen Aufenthaltsstatus. Für sie steht viel auf dem Spiel, denn ihnen drohen Gefängnis oder hohe Geldstrafen. Bei Vorstrafen droht eine Gefährdung des Aufenthaltstitels – sofern er vorhanden ist.
Oft sitzen die Beschuldigten vor Prozessbeginn monatelang in Untersuchungshaft. So erging es auch Nije S., der 2018 in Berlin-Friedrichshain festgenommen wurde. Zwei Mal haben ihn Polizist*innen beim Handel mit Cannabis erwischt. Er gestand, doch darüber hinaus wurde ihm nun vorgeworfen, ein »Depot« mit Cannabis angelegt und den Handel koordiniert zu haben. Der Vorwurf beruht auf der Behauptung zweier Polizeibeamter, der Angeklagte sei dieselbe Person, die sie einige Tage vor seiner Verhaftung an einem größeren Versteck von Cannabis beobachtet, dessen Spur sie aber dann verloren hätten. Einer der Polizeizeugen gab schließlich an, ihn anhand seiner Kopfform wieder zu erkennen. Von der Festnahme bis zum Ende seines Prozesses saß Nije S. sechs Monate in Untersuchungshaft.
Dürftige Beweislage, rassistische Muster
Die Beweislage ist meist dürftig: Staatsanwaltschaft und Gericht stützen sich in Anklage und Urteil gewöhnlich allein auf die Angaben von Polizeizeug*innen, die vage und widersprüchlich sind. Dies war auch bei Oumar K. der Fall, der im April 2017 in der Nähe des Görlitzer Parks in Kreuzberg von der Polizei angehalten und durchsucht wird. Er kam in Untersuchungshaft, im November 2017 begann sein Prozess. Obwohl bei ihm keine Drogen gefunden wurden, drohte ihm eine Haftstrafe wegen angeblichen Handels mit Betäubungsmitteln. Eine Polizeibeamtin behauptet gesehen zu haben, wie eine Person eine Tüte mit Marihuana unter ein parkendes Auto warf. Später soll Oumar K. anhand seines blauen Parkas und seiner dunklen Hautfarbe identifiziert worden sein. Doch niemand hat ihn durchgehend beobachtet. Oumar K. bestreitet die Vorwürfe. Er wird in erster Instanz zu einem Jahr und sechs Monaten, in zweiter Instanz zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt. Oumar K. geht dagegen in Revision. Diese scheitert, das Urteil wird bestätigt.
Auch wenn die Aussagen von Polizeizeug*innen kaum Aussagekraft hinsichtlich der angeklagten Taten haben, sind Verurteilungen die Regel. Ihre Aussagen geben jedoch auch tiefe Einblicke in die Haltung und Arbeitsweise von Polizei und Justiz. So scheinen die »Schwerpunkteinsätze zur Bekämpfung von Drogenkriminalität« der Berliner Polizei stets nach einem ähnlichen Muster abzulaufen: Polizist*innen beobachten aus der Entfernung Menschen, denen sie unterstellen mit Marihuana zu handeln. Findet eine Übergabe statt, kontrollieren die Beamt*innen zuerst die mutmaßliche Käufer*in. Entdecken sie Drogen, versuchen die Polizist*innen anschließend den passenden Händler dazu zu finden. Häufig – wie bei Ibad E. – werden dabei ganze Personengruppen – meistens Schwarze Männer – festgenommen, unter denen vermeintliche Verkäufer identifiziert werden.
Glaubt man den Aussagen der Polizeizeug*innen vor Gericht, sind diese Situationen sehr unübersichtlich. So vergleicht im Prozess von Oumar K. (der Mann mit dem blauen Parka) ein Polizeizeuge den Görlitzer Park mehrfach mit einem »Ameisenhaufen«. Diese lapidare Gleichsetzung von Schwarzen Menschen mit Insekten zeigt zudem die rassistische Grundhaltung des Beamten. Ein anderer Polizeibeamter meint im Prozess gegen Njie S., »Schwarzafrikaner« seien schwer zu unterscheiden, das gebe er zu, aber der Angeklagte habe so einen auffallend runden Kopf gehabt, daher habe er ihn wiedererkannt. Seine Begründung erinnert nicht von ungefähr an die rassistische Pseudowissenschaft der Kraniometrie im 19. und 20. Jahrhundert, die behauptete »Menschenrassen« und »Kriminelle« anhand spezifischer Schädel- und Gesichtsproportionen erkennen zu können.
Nachweis der Tat? Irrelevant!
Es wird in diesen Prozessen schnell offensichtlich, dass im Nachhinein nicht sicher festgestellt werden kann, wer nun genau gehandelt, wer daneben gestanden und wer einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Diese Unterscheidung scheint für die Arbeitsweise der Polizei aber auch nicht von Bedeutung, denn es herrscht die Grundannahme vor, dass ohnehin alle Schwarzen Männer vor Ort mit Drogen zu tun hätten. Mit dem individuellen Tatnachweis nimmt man es daher nicht so genau: Männlich und Schwarz zu sein und ein ähnliches Kleidungsstück wie die beobachtete Person zu tragen reichen in der Regel für eine Identifizierung aus.
Auch bei der Beweissicherung sind Versäumnisse und Ungenauigkeiten die Regel. Beispielsweise werden von Marihuana-Tütchen meist keine Fingerabdrücke genommen. Besonders in Fällen, in denen bei Festgenommenen gar keine Betäubungsmittel gefunden wurden, sondern diese nur durch vage Aussagen von Polizist*innen belastet werden, wäre dies aber relevant.
Auch bei Identifizierungen wird häufig ungenau gearbeitet, zum Beispiel werden häufig keine Wahlbildlichtvorlagen gemacht. So erging es auch Njie S.: Dem Polizeibeamten, der ihn schwer belastete, wurde allein sein Foto vorgelegt mit der Frage, ob das die Person gewesen sei, die er Tage zuvor am »Cannabis-Depot« gesehen habe. Richtig wäre gewesen, ihn aus mehreren Fotos unterschiedlicher Personen auswählen zu lassen. Das alles zeigt, dass es den Polizist*innen im Einsatz vor allem darum geht, beliebige Schwarze Männer festzunehmen, um ihren Auftrag der Drogenkriminalitätsbekämpfung zügig und in ihrem Sinne erfolgreich abschließen zu können. Nije S. wird in zwei Instanzen für schuldig befunden und erhält eine Haftstrafe auf Bewährung sowie eine hohe Geldstrafe. Sein Aufenthalt in Deutschland bleibt ungewiss.
Das Gericht hat sein Urteil meist schon gefällt
Dieses einseitige Vorgehen setzt sich vor Gericht fort: Theoretisch wäre es Aufgabe eines Strafprozesses, einen konkreten Tat- und Schuldnachweis zu erbringen und – wenn dies nicht möglich ist – den Angeklagten frei zu sprechen oder das Verfahren aus Mangel an Beweisen einzustellen. In Cannabis-Prozessen ist es jedoch meist allein die Verteidigung, die versucht diese rechtsstaatliche Vorgabe zu erfüllen – und das auch nur, wenn sie engagiert ist. Da in Fällen von Cannabis-Handel keine Prozesskostenhilfe vorgesehen ist, können sich die meisten Angeklagten keine Verteidigung leisten. In Fällen, in denen eine solche nicht durch das Gericht beigeordnet wird, der Staat also für die Anwaltskosten aufkommt, stehen Angeklagte oftmals ganz ohne Vertretung vor Gericht. Das hat enorme Auswirkungen auf das Verfahren, denn in der Regel ist eine gut arbeitende Verteidigung die einzige Instanz, die eine mangelhafte und widersprüchliche Beweisführung durch gezielte Fragen herausarbeitet und offen problematisiert. Gericht und Staatsanwaltschaft treten hingegen kaum in Aktion um herauszufinden, ob dem Angeklagten die Tat wirklich nachgewiesen werden kann. Im Gegenteil reagieren sie häufig gereizt, wenn die Verteidigung die Zeug*innen zu detailliert befragt oder zu viele Beweisanträge stellt. Oft wirkt es, als sei für sie eine ordentliche Verteidigung ein Störfaktor im reibungslosen Prozessablauf.
Ibad E. wird am 9. Dezember 2015 zu 120 Tagessätzen verurteilt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung gehen in Berufung. Erstere will eine Haftstrafe erwirken. In zweiter Instanz ist es möglich, einen Zeugen auffindbar zu machen, der in der ersten Instanz nicht erschienen ist. Ausnahmsweise ist es kein Polizist, sondern der Mann, der das fragliche Cannabis gekauft hatte. Er entlastet Ibad E. Allein dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass Ibad E. nach drei Jahren nervenaufreibenden Strafverfahrens freigesprochen wird – eine absolute Ausnahme.
In Betäubungsmittelverfahren geht es nicht darum herauszufinden, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort mit Drogen gehandelt hat. Die Polizeirazzien und Strafverfahren wirken auf eine Verdrängung von Schwarzen Männern mit unsicherem Aufenthaltsstatus und prekären Lebensbedingungen von öffentlichen Plätzen hin. So wird das Strafrecht zu einem Instrument der Migrationskontrolle: Wer aufgrund seiner Illegalisierung oder aufgrund geltender Arbeitsverbote für Menschen im Asylverfahren und Geduldete keiner legalen Arbeit nachgehen kann, wird illegalisierte Tätigkeiten ausüben. Wer aber im öffentlichen Raum Drogen verkauft und Schwarz ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Zielscheibe der Drogenfahnder*innen und verurteilt. Die Folge ist noch mehr Prekarität oder sogar die Abschiebung.
Nach Vorfällen rassistischer Polizeigewalt wird immer wieder die Nachricht gestreut, die Betroffenen hätten mit Drogen zu tun gehabt. So war es nach dem Bekanntwerden des Todes von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle oder auch nach der Polizei-Großrazzia im Geflüchtetenlager Ellwangen am 3. Mai 2018. Die Razzia war eine direkte Reaktion auf den spontanen Protest von Bewohner*innen gegen eine Abschiebung. Auch hier gab die Polizei bekannt, es sei Cannabis sichergestellt worden und suggerierte damit, bei den protestierenden Geflüchteten handele es sich um Kriminelle. Das rassistische Klischee vom Schwarzen Mann als Drogendealer ist auch ein Mittel, um Proteste von Geflüchteten zu diskreditieren und Polizeigewalt zu vertuschen oder zu legitimieren.
Der Artikel ist zuerst in ak – analyse & kritik 646 (April 2019) erschienen.