Wie auf der Straße, so im Gerichtssaal… Prozessbericht aus Wien

3. Mai 2017, Landgericht Wien. Gemeinsam mit „Prozessreport“ beobachten wir einen Suchtmittelprozess. Wie die meisten Großstädte ist auch Wien betroffen von Gentrifizierung und Verdrängung. Teil dieser Verdrängungsprozesse ist eine drastische Zunahme von „Drogenkriminalitätsbekämpfungsmaßnahmen“ durch die Polizei. Diese Repressionen treffen dabei kaum die weiße Kundschaft aus der Mittelschicht, sondern in erster Linie Personen, die (zum Teil als direkte Folge rassistischer Gesetze) gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt mit Dealen zu verdienen. Eine Folge dieser Stadtpolitik: massives Racial Profiling, das wie am Fließband Strafprozesse und Verurteilungen im Schnellverfahren produziert. Dies verdeutlichte auch der von uns beobachtete Prozess. Der Angeklagte soll regelmäßig Cannabis in kleineren Mengen verkauft haben. Unter seinen mutmaßlichen Kund_innen sind viele Gymnasiast_innen. Dass viele von ihnen noch minderjährig sind, wird dem Angeklagten erschwerend zur Last gelegt.

Wir erleben einen schier unerträglichen Verhandlungstag. Der Angeklagte ist in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Er hat eine Verletzung am Bein und scheint starke Schmerzen zu haben. Teilweise fallen ihm während der Verhandlung die Augen zu. Es ist zu bezweifeln, dass er überhaupt verhandlungsfähig ist. Diese Tatsache lässt die übrigen Prozessbeteiligten unberührt. Als der Angeklagte auf seinen schlechten Zustand hinweist und um ein Glas Wasser bittet, verwehrt ihm der Richter selbst das mit dem Kommentar: „ich hab‘ kein Wasser“. Die Verteidigerin macht auf uns einen desinteressierten Eindruck, sie verbringt den Großteil des Prozesses schweigend. Sie stellt keine Anträge und befragt die Zeug_innen, die ihren Mandanten schwer belasten, kaum. Sie scheint ihren Mandanten weder über seine Rechte und den Prozessverlauf aufgeklärt noch eine Verhandlungsstrategie besprochen zu haben.

Der Richter unterdessen macht aus seiner Verachtung gegenüber dem Angeklagten kaum einen Hehl. Von Anfang an wird deutlich, dass er den Prozess möglichst schnell über die Bühne bringen möchte. Der Angeklagte scheint dabei nur ein Störfaktor zu sein, der mit allen Mitteln ruhig gehalten werden soll. Das zeigt sich schon bei der Verdolmetschung: es wird nur dann übersetzt, wenn der Angeklagte direkt angesprochen wird. Große Teile des Gesprochenen bleiben für ihn schwer- oder unverständlich. Er kann so dem Prozess kaum folgen und hat fast keine Gelegenheit, zu den Vorwürfen aus seiner Sicht Stellung zu nehmen. Auch bleibt für ihn unklar, wann er sich äußern darf. Mehrfach versucht er trotzdem, in den Prozess einzugreifen, wird aber sofort durch den Richter zum Schweigen gebracht. Als er etwa einige Male ansetzt, sich zu den Vorfällen auf Deutsch zu äußern, fährt der Richter ihm immer augenblicklich über den Mund: „Reden Sie eine Sprache, die wir alle verstehen, das versteht keiner.“ Ab und zu versucht der Angeklagte, Dinge richtig zu stellen. Daraufhin wird er entweder ignoriert, vom Richter ungläubig verhöhnt oder angeherrscht, still zu sein.

Unerträglich sind auch die zahlreichen Zeug_innen: bis auf eine scheint es sich sämtlich um Gymnasiast_innen aus gutem Hause zu handeln, die teils in Begleitung ihrer besorgten Eltern erscheinen. Obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Aussage zu verweigern, um sich nicht selbst zu belasten, gaben sie bereits im Ermittlungsverfahren der Polizei bereitwillig Auskunft über den Angeklagten. Auch auf die Fragen des Richters antworten sie unbefangen. Darüber, welche Konsequenzen ihre Aussagen für den Angeklagten haben, machen sie sich offenbar keine Gedanken oder es ist ihnen schlichtweg egal. Für sie wird das Ganze schließlich glimpflich ausgehen und billiges Gras können sie in Zukunft im Zweifelsfall von einem anderen Dealer kaufen. Im Gegensatz zum Angeklagten wird mit den Zeug_innen im Übrigen äußerst vorsichtig und respektvoll umgegangen. Sie werden nicht durch kritische Fragen bedrängt und dürfen alle nach wenigen Minuten wieder gehen. Klassenunterschiede und rassistische Segregation, die die Schüler_innen – im Gegensatz zu ihren Dealern – auf der Straße von Polizeikontrollen unbehelligt lassen und ihnen den Zugang zu vornehmen Schulen und hippen Wohnvierteln eröffnen, aus denen andere verdrängt werden, treten auch im Gerichtssaal offen zu Tage.

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