Prozessbericht von Justizwatch & Culture of Deportation, 30.10.2020
Das Verfahren gegen den westafrikanischen Asylsuchenden Christian D. wurde am 21. Oktober 2020 nach zwei Prozesstagen überraschend eingestellt. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, im Kontext einer Zwangsverlegung in eine andere Unterkunft Polizeibeamt*innen angegriffen und verletzt zu haben. Die Anklage ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten, nachdem die Aussage einer beteiligten Beamtin und ein von der Verteidigung eingebrachtes Video schwere Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes weckten. Während Staatsanwaltschaft und Gericht am ersten und zu Beginn des zweiten Verhandlungstages noch am schweren Vorwurf des tätlichen Angriffs festgehalten hatten, sah der Richter sich nun gezwungen, auf den Vorschlag des Verteidigers einzugehen un das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Vermutlich spielte dabei auch das große Interesse von solidarischen Prozessbeobachter*innen und Medienvertreter*innen eine Rolle – alle Plätze im Saal waren besetzt.
Am ersten Verhandlungstag im Frühjahr 2020 hatte der andere beteiligte Beamte den Pfeffersprayeinsatz und drei Faustschläge ins Gesicht des Angeklagten eingeräumt. Am zweiten Prozesstag, der am 21. Oktober stattfand, rechtfertigte die Beamtin den Einsatz von Pfefferspray und Faustschlägen damit, dass der Angeklagte „aggressiv“ und „bedrohlich“ gewirkt habe. Als Zeichen der angeblichen Aggressivität nannte sie „schwere Atmung“ und „Angespanntheit“. Der Verteidiger machte darauf aufmerksam, dass dies genau die Symptome eines Pfeffersprayeinsatzes sind. Auf die Frage des Verteidigers, warum die Beam*innen keine Verstärkung gerufen haben, statt direkt Pfefferspray zu benutzen – ein schweres Mittel das eigentlich einen Schusswaffeneinsatz verhindern soll – antwortete die Beamtin, dass beide in diesem Moment wie „im Tunnel“ gewesen seien. Zuvor hatte der Verteidiger das Gericht schon auf die ungeklärte Frage der Verhältnis- und Rechtmäßigkeit des Einsatzes hingewiesen: Durfte die Objektleiterin statt der zuständigen Regierung Oberbayern die Polizei zur Durchsetzung der Umverteilung rufen? Bestand wirklich eine konkrete Gefahr, die den Pfeffersprayeinsatz gerechtfertigt hätte? Er betonte, dass man im Gerichtssaal auch über Polizeigewalt sprechen müsse. In ihrer Aussage hat die Beamtin gar erwähnt, dass ihr Kollege sie nach dem Einsatz selbst gefragt habe, ob er in der Situation „überreagiert“ habe.
In ihrer Aussage verneinte die Beamtin vehement, dass dem Angeklagten beim Abtransport ein Sack über den Kopf gezogen wurde – zumindest habe sie sowas nicht selbst gesehen. Außerdem sei der Angeklagte nicht bewusstlos gewesen. Nachdem sie den Saal verlassen hatte, brachte die Verteidigung das Video ein, in dem die Beamtin den augenscheinlich bewusstlosen Angeklagten begleitet, der mit einem sackartigen „Spuckschutz“ von mehreren Personen zum Krankenwagen getragen wird. Neben der Unglaubwürdigkeit der Polizeizeugin wurde deutlich, wie mangelhaft die „Ermittlungsarbeit“, die zur Anklage geführt hat, gewesen ist. An dieser Stelle kam das Gericht auf die Anregung der Verteidigung, das Verfahren einzustellen, zurück. Die Einstellung des Verfahrens wurde mit einer Auflage von zehn Stunden gemeinnütziger Arbeit versehen.
Christian D. reagierte mit gemischten Gefühlen auf die Gerichtsentscheidung: Er musste die Einstellung des Prozesses, der aus einer Täter-Opfer-Umkehr resultierte, als die beste Option akzeptieren. Er bedauerte aber, dass die brutale und rassistische Polizeigewalt, von der er bis heute andauernde Verletzungen sowie eine psychische Traumatisierung davongetragen hat, nicht aufgeklärt und vom Gericht nicht einmal als solche benannt wurde. Stattdessen wurde er selbst durch die Verpflichtung, zehn Sozialstunden abzuleisten, symbolisch schuldig gesprochen. Dass die Staatsanwaltschaft gegen die Beamt*innen ermittelt oder die Vorfälle anderweitig wirklich aufgeklärt werden, scheint derzeit ausgeschlossen. Und anstatt den Einsatz gegen D. als Fall von Polizeigewalt zu bezeichnen, erklärte der Richter, Polizeigewalt existiere zwar im allgemeinen in Deutschland, habe aber nicht das Ausmaß wie in „anderen Ländern“. Zudem lobte er den Beamten, der die Faustschläge und Pfefferspray angewandt hatte, für seine „Fähigkeit zur Selbstkritik“. So nutzte er das Verfahren letztlich, um die deutsche Polizei und Gesellschaft als überlegen darzustellen.
Während der Verhandlung hat der Richter der einzigen Schwarzen Person im Publikum, dem Menschenrechtsaktivisten Rex Osa aus Stuttgart, untersagt, Notizen zu machen. Die weißen Personen ließ er weiter protokollieren. Die diskriminierende Ansage geschah nicht zu Beginn der Verhandlung, sondern in dem Moment, als das Video den Richter unerwartet zu einem Strategiewechsel zwang.
Presseberichte:
SZ 21.10.2020: Gewalt bei Polizeieinsatz in Asylunterkunft
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