Am 01. September 2015 versprüht ein Mann in einer Unterkunft für Geflüchtete im brandenburgischen Massow Pfefferspray und verletzt damit rund 35 Personen. In der Folge kommt es zu einem Großeinsatz von Rettungsdiensten und Polizei. Am 22.02.2017 steht der Angreifer in Königs Wusterhausen vor Gericht. Der Angeklagte: ein Mann, der zum Tatzeitpunkt als Bauleiter in der Unterkunft arbeitet, dort auch selbst wohnt und auf Facebook rassistische Posts von Pegida teilt.
Im Prozess gesteht der Angeklagte die als gefährliche Körperverletzung angeklagte Tat, bestreitet aber eine ebenfalls angeklagte Beleidigung. Die Pfeffersprayattacke stellt er als „Spaß“ dar: Er habe nicht gewusst, dass ein lediglich eine Sekunde anhaltendes Sprühen solchen Schaden anrichten könne. Trotz der großen Zahl an Verletzten kann nur ein Mann aus Syrien im Prozess als Nebenkläger auftreten, da der Großteil der anderen Betroffenen in der Zwischenzeit abgeschoben wurde. Die Folgen der Tat und die Perspektiven von geflüchteten Menschen nehmen daher in der Verhandlung sehr wenig Raum ein.
Dieser strukturelle Rassismus prägt auch den Ausgang des Verfahrens: Die Tatschilderung des Nebenklägers unterscheidet sich zwar in wesentlichen Punkten von der Version des Angeklagten und eines mit ihm befreundeten Zeugen, kann aber nicht durch weitere Zeug*innen bestätigt werden. Dies nehmen der Staatsanwalt und der Richter zum Anlass, den Nebenkläger auf seine Wahrheitspflicht hinzuweisen. Der Angeklagte wird schließlich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 1,5 Jahren auf Bewährung verurteilt. Das Gericht kann allerdings keine rassistische oder menschenverachtende Tatmotivation feststellen. Der Angeklagte habe ja vor der Tat den Abend mit Bewohnern der Unterkunft in guter Stimmung verbracht. Und Albaner seien für führende deutsche Kadernazis wohl nicht die „typische Umgangsklientel“. Daher gehöre die Tat eher in die Kategorie „sehr dummer Jungenstreich“.
Einmal mehr wird Rassismus ausschließlich organisierten Nazis zugeschrieben. Nicht erkannt werden rassistische Motive und Einstellungen, wenn Täter*innen auf die eine oder andere Weise mit den Menschen in Kontakt stehen, die sie aufgrund ihrer rassistischen Vorstellungen ablehnen – weil sie beispielweise in einer Flüchtlingsunterkunft arbeiten. Ebenfalls nicht erkannt wird Rassismus als gesellschaftliche Struktur. Dabei veranschaulicht der Prozess geradezu idealtypisch das Ineinandergreifen von staatlichem Rassismus (die Abschiebungen) und „privaten“ rassistischen Angriffen. Beides prägt die Lebensrealitäten von Geflüchteten.