Protokoll Prozess gegen Amiri S.
2. Verhandlungstag
Zeit: 22.02.2016, 9:30 bis ca. 11:00 Uhr
Ort: Amtsgericht Tiergarten; Turmstr. 91, Berlin; Raum 672
Anwesende:
R – Richter (weiß)
StA – Staatsanwältin (weiß)
A – Angeklagter Amiri S. (PoC)
V – Verteidiger des A (weiß)
Praktikantin/Referendarin von V (weiß)
Dolmetscherin für A (weiß)
Protokollantin (weiß)
eine weitere beisitzende Person neben R (Rolle unklar) (weiß)
Zeuge 1 (Z 1) – Polizeibeamter (weiß) (C im Protokoll des 1. Verhandlungstages)
Zeuge 2 (Z 2) – Polizeibeamter (weiß) (D im Protokoll des 1. Verhandlungstages)
Zeuge 3 (Z 3) – Gastronom und Künstler (weiß)
9 Zuschauer_innen (mehrheitlich weiß)
Anmerkungen
– Die Staatsanwältin wirkte auf uns sehr jung, möglicherweise unerfahren.
– Es sind keine Justizpolizisten anwesend, was sich positiv/entspannend auf die Verhandlungsatmosphäre auswirkt.
– Der Richter stellt den Polizeibeamten viele kritische Nachfragen.
– Während der Begründung des Urteils schaut R A an und spricht ihn auch direkt an: der dritte Zeuge hat Ihre Einlassung bestätigt usw.
Ablauf der Verhandlung
Der erste Zeuge kommt in den Zeugenstand. Er ist in seiner Polizeiuniform erschienen.
R fordert ihn zunächst auf, aus seiner Erinnerung zu berichten, was am Morgen des 26.07.15 geschehen ist. Z 1 macht folgende Angaben: Der Angeklagte sei ungefähr um fünf Uhr morgens aus der Bar heraus befördert worden und der Geschädigte (des Diebstahls) habe ihn als Täter erkannt. Daraufhin hätte(n) er (und sein Kollege?) ihn zweimal angesprochen. Er habe aber beide Male nicht reagiert. Er habe „nicht mitgespielt“. Sie hätten mehrmals gesagt, er solle auf den Boden, was er nicht gemacht habe. Daher hätten Sie [unverständliches Wort] zur Hilfe nehmen müssen. Das sei nur mit viel Druck gelungen. Irgendwie hätten sie es dann auch geschafft, A ins Auto zu setzten. Irgendwann auf der Fahrt zur Gefangenensammelstelle (Gesa) habe bei A ein Sinneswandel eingesetzt und man habe mit ihm reden können. Er habe ihn zuerst auf Englisch angesprochen und sei dann ganz überrascht gewesen, als der Angeklagte zu ihm gesagt habe, dass er auch Deutsch mit ihm sprechen könne. A habe deutlich unter Alkoholeinfluss gestanden, was man an der Aussprache gemerkt habe.
Themen der Befragung durch R (selektive Notizen):
Ein Thema ist die Belehrung des Beschuldigten: es ist unklar, wann Amiri S. mitgeteilt wurde, was ihm vorgeworfen wurde. Z 1 gibt nach einigem Hin- und Her an, er habe Amiri S. schon auf dem Gehweg vor der Bar darüber informiert, dass er Beschuldigter eines Diebstahls sei. Die eigentliche rechtliche Belehrung sei erst später (auf der Gesa?) erfolgt. R erkundigt sich nach der Funktion der ersten Information: Warum machen Sie das? Z 1 antwortet, das mache er, damit der Bürger Bescheid wisse und seinen Anweisungen Folge leiste.
[…]
R macht einen Vorhalt aus der Aussage von A: er sei aus der Kneipe rausgekommen und sofort von Polizeibeamten zu Boden gebracht worden.
Z 1 antwortet: „Das kann ja aus seiner Sicht so gewesen sein, aber die Zeit zum Ansprechen hatten wir schon noch.“
R reagiert mit Unverständnis: das verstehe ich nicht – wieso mag das aus seiner Sicht so gewesen sein?
Z 1 erwähnt, A sei stark alkoholisiert gewesen.
R macht einen weiteren Vorhalt: A habe gesagt, er habe sich nicht gewehrt, aber immer wieder gefragt, warum sie [die Polizeibeamten] das machen.
Z 1 sagt, daran könne er sich nicht erinnern.
Befragung durch V:
V stellt viele Fragen, u. a. zur Situation vor und während der Festnahme, zu eventuellen Gesprächen zwischen Z 1 und A, zur Fahrt zur Gesa. Er erkundigt sich auch, wie lange Z 1 schon als Streifenbeamter in Kreuzberg tätig ist (seit einem Jahr).
Z 1 wirkt teilweise, als fühle er sich durch die Fragen von V in die Enge getrieben.
V will wissen, wer die Entscheidung traf, Amiri S. zu Boden zu bringen (Z 1) und ob es keine milderen Mittel gegeben habe. Z 1 verneint dies. Auf dem Gehweg sei eine Durchsuchung des Beschuldigten nicht möglich gewesen, damit hätte er sich selbst einer Gefahr ausgesetzt. V fragt, ob es einen Fluchtversuch von A gegeben habe (Z 1 verneint dies), ob es nicht möglich gewesen wäre, auf Verstärkung zu warten. Z 1 erwidert: Wie lange soll ich denn warten als Polizeibeamter? Ich lasse keinen Beschuldigten einer Straftat undurchsucht auf der Straße stehen […] Das werde ich auch in Zukunft nicht machen. Zur Begründung sagt er, A hätte ja ein Messer in der Tasche haben können.
R macht sich viele Notizen, während V den Zeugen befragt. Die StA macht keine Notizen, scheint aber aufmerksam zuzuhören.
Z 1 wird um 10:13 entlassen.
Der zweite Zeuge (Z 2) wird herein gerufen. Er ist 46 Jahre, Polizeibeamter, trägt keine Uniform.
R befragt […]
Die Staatsanwältin will wissen, ob es über das „Versteifen“ hinaus weitere Widerstandshandlungen des Angeklagten gegeben habe. Z 2 sagt, er glaube nein.
V fragt, welche Beamten schon vor Ort waren, als Z 2 und Z 3 eintrafen. Z 2 nennt einen Namen, kann sich aber an den zweiten Namen nicht erinnern. V fragt, ob das Frau K. gewesen sein könne. Z 2 bejaht dies und fügt hinzu, die Kollegin habe früher Otto geheißen. Hierauf sagt V: Ha, das ist ja lustig!
Später erkundigt sich V, wie Z 2 auf die Herkunft von A gekommen sei [Z 2 hat an anderer Stelle, vermutlich in der zeugenschaftlichen Äußerung, angegeben, ein zweiter Mann „afrikanischer Herkunft“ sei aus der Bar gekommen]. Z 2 erklärt, das habe er wegen der Hautfarbe von A angenommen.
Z 2 wird um 10:30 entlassen.
Danach kommt der dritte Zeuge (Z 3), 53 Jahre, Künstler und Gastronom in den Zeugenstand.
Zu den Geschehnissen am 25.07.15 sagt Z 3, es habe einen Diebstahl gegeben, ein amerikanischer Tourist habe die Polizei gerufen. A sei nicht der Täter gewesen, er sei aber sehr betrunken gewesen und habe „rumgenervt“, weswegen er ihn „raus bugsiert“ habe. Vor der Tür hätten sich zwei Polizeibeamte sofort auf ihn gestürzt, A sei sehr schnell am Boden gewesen, ein Polizist habe auf ihm gesessen. Z 3 sei davon ausgegangen, dass es sich um ein Missverständnis beziehungsweise eine unglückliche Verkettung von Ereignissen gehandelt habe. Er habe aber sofort wieder rein gemusst, weil die Kneipe gut besucht gewesen sei und er alleine gearbeitet habe. Auf Nachfrage sagt Z 3 nochmal, er habe A rausgeworfen, weil er so betrunken gewesen sei, A habe aber seinen Anweisungen Folge geleistet und sich ohne Widerstand aus der Kneipe schieben lassen.
R hält die Version der Polizeibeamten vor. Z 3 bleibt daraufhin bei seiner Version: er habe nicht beobachtet, dass A erst angesprochen wurde, er sei sehr schnell am Boden gewesen.
StA und V haben keine Fragen. Z 3 wird um 10:44 entlassen.
Der vierte geladene Zeuge, der mutmaßliche Tourist, der die Polizei gerufen hat, ist nicht erschienen. R erklärt, er würde jetzt Z 4 nicht mehr unbedingt laden, er tendiere momentan zu einem Freispruch. Weder StA noch V haben Einwände. Daraufhin schließt R die Beweisaufnahme.
Plädoyer StA
– die Beweisaufnahme habe ergeben, dass „erhebliche Zweifel“ an der Schuld des Angeklagten bestehen würden
– er habe lediglich passiven Widerstand geleistet, der als solcher nicht strafbar sei
– es bestünden außerdem Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festnahme
Die StA beantragt, den A freizusprechen.
Plädoyer Verteidigung
V sagt, er schließe sich der StA in juristischer Hinsicht an.
Es sei ein Glück, dass der Z 3 erschienen sei. Es sei immer problematisch, wenn ausschließlich Polizeibeamte aussagen; in diesem Fall seien die Anzeigen nicht so gut/geschickt geschrieben worden, außerdem sei es mit Hilfe von Z 3 möglich gewesen, die Geschehnisse aufzuklären. V übt darüber hinaus Kritik am rassistischen Blick der Polizeibeamten (allerdings ohne das Wort ‚rassistisch‘ zu verwenden): Diese seien gleich davon ausgegangen, dass zwei Schwarze Männer gemeinschaftlich den Diebstahl begangen hätten. V beantragt ebenfalls, A freizusprechen.
R erteilt Amiri S. das letzte Wort; dieser sagt er habe nichts hinzuzufügen.
10:50 Der Richter zieht sich für einige Minuten zurück.
Urteil
Die Strafbarkeit einer Widerstandshandlung gegen eine Festnahme i. S. v. § 113 StGB setze in Bezug auf die Festnahme voraus, dass der Beschuldigte versuche zu fliehen oder dass die Polizeibeamten – sofern sie eine Identitätsklärung durchführen möchten – dem Beschuldigten erklären, worum es geht (sofern dies nicht offensichtlich sei). R habe jedoch erhebliche Zweifel daran, dass diese Erklärung erfolgt sei. Z 3 habe die Einlassung des A bestätigt. Er gehe daher davon aus, dass die Festnahme rechtswidrig war. Schon deshalb sei Amiri S. freizusprechen.