Amtsgericht Tiergarten, 15. August 2018
Anwesende: ein Richter sowie zwei Schöffen, eine Staatsanwältin, ein Gerichtsprotokollant, ein Rechtsanwalt, der Angeklagte N. Senghore (Name geändert), Dolmetscherin, zwei Justizbeamt*innen.
Ankunft am Verhandlungssaal 138 um 11:25, ich bin die einzige Zuhörerin, die auf den Einlass wartet. Die Verhandlung kann nicht um 11:30 beginnen, da die zwei Zeugen nicht anwesend sind. Die Stimmung ist leicht angespannt, die zwei Justizbeamt*innen laufen immer wieder auf den Gang und schauen sich um. Um 12:00 werde ich informiert, dass beide Zeugen angerufen wurden. Einer befindet sich auf dem Weg, der andere ist im Urlaub. Die Verhandlung wird um 12 Uhr vorerst ohne die Zeugen begonnen.
Im Raum befindet sich hinten links ein Protokollant, in der Mitte sitzt der Richter zwischen zwei Schöffen. Rechts von diesen sitzt die Staatsanwältin. Der Angeklagte Herr Senghore sitzt mit einer Dolmetscherin links in einem abgetrennten Bereich. Mit dem Rücken zu ihnen befindet sich davor der Rechtsanwalt. Er bittet darum, dass sein Mandant neben ihm sitzen darf. Der Richter gestattet Herrn Senghore, den abgetrennten Bereich zu verlassen, besteht jedoch darauf, dass er sich mit der Dolmetscherin frontal zum Richterpult setzt. Somit sitzt Herr Senghore seitlich vor dem Tisch des Rechtsanwalts. (Das wirkt auf mich übertrieben, so als wolle der Richter den Angeklagten „sicherheitshalber“ im Blick behalten wollen.)
Die Verhandlung beginnt mit formalen Angaben zum Angeklagten. Herr Senghore ist 1990 in Gambia geboren und lebt seit 2014 in Deutschland. Er hat in Italien eine Aufenthaltsgenehmigung. Bevor er nach Berlin kam, lebte er in einem Flüchtlingsheim in Freiburg. Auf die Frage des Richters, ob Herr Senghore einen festen Wohnsitz habe antwortet dieser, er hätte früher einen festen Wohnsitz gehabt. Hierauf entgegnet der Richter: „Ja, was soll das heißen, früher?!“ (Dies wirkt auf mich unwirsch und herablassend). Herr Senghore wurde am 20. Juni 2018 vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.
Im Folgenden wird von der Staatsanwältin die Anklageschrift verlesen. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, in Berlin im Gebiet der Revaler Straße in Friedrichshain zwischen dem 17. Januar 2018 und dem 8. April 2018 in drei Fällen gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen zu haben. In einem Fall vom 17. Januar wird ihm der Besitz eines Depots von 133,1 g Cannabis und in zwei Fällen am 27. Februar sowie am 8. April der gewerbsmäßige Handel mit Cannabis vorgeworfen.
Der Richter belehrt den Angeklagten, dass es ihm freisteht, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Der Rechtsanwalt spricht stellvertretend für Herrn Senghore und sagt, dass er letztere zwei Fälle zugibt, jedoch bestreitet, etwas mit dem Depot zu tun zu haben. Die Staatsanwältin möchte hierzu Fragen stellen, der Rechtsanwalt lehnt das Gesuch jedoch ab.
Der Richter liest die Zeugenberichte bezüglich der Fälle des 27. Februar sowie des 8. April vor, in welchen die Deals mit zwei vorgeschickten Polizisten in Zivil abgewickelt und von weiteren Polizist*innen beobachtet wurden. Im ersten Deal handelt es sich um den Verkauf eines Tütchens mit 1,2 g Cannabis, im zweiten Deal wurde ein Tütchen mit 0,973 g des selbigen Stoffes verkauft. Herr Senghore erklärt, auf die mit diesen Deals verdiente Geldsumme zu verzichten und diese zurückzuzahlen.
Zur Besprechung des ersten Falls vom 17. Januar wäre nun die Anwesenheit der Zeugen nötig, es ist jedoch noch niemand eingetroffen. Der Richter sagt, dass die Zeugen, zwei Polizeibeamte namens B. und F. angegeben hätten, nicht benachrichtigt worden zu sein. Zeuge F. befindet sich derzeit auf Reisen, Zeuge B. ist auf dem Weg zum Gerichtssaal und sollte jeden Moment eintreffen.
Der Rechtsanwalt kommt auf die Spurensicherung zu sprechen, die die drei in Alufolie gewickelten Päckchen im Depot auf Spuren untersuchen sollte. Er wirft dieser Versagen vor, da keine brauchbaren Spuren gefunden wurden und es somit weder Beweise dafür noch dagegen gibt, dass der Angeklagte etwas mit dem Depot zu tun gehabt hätte und fordert einen DNA-Abgleich. Es folgt ein hitziges Gespräch zwischen Rechtsanwalt und Richter, welcher angibt, dass drei Wischspuren genommen wurden, von denen aber nun mal nichts Eindeutiges ermittelt werden konnte. (Anmerkung: Der Richter grinst währenddessen hin und wieder und scheint den Rechtsanwalt damit entblößen zu wollen.)
Um 12:27 wird die Verhandlung unterbrochen, um auf das Eintreffen des ersten Zeugen zu warten.
Um 13:04 wird die Verhandlung fortgesetzt. Zeuge B., ein 28 Jahre alter Polizeibeamter, ist nun anwesend und die Beweisaufnahme wird fortgeführt, nachdem der Richter ihn belehrt hat. Der Zeuge gibt an, den Angeklagten am 17. Januar gegen Abend gemeinsam mit seinem Kollegen F. dabei beobachtet zu haben, wie er hinter einem Auto vor einem Maschendrahtzaun hantiert, sich etwas in die Tasche gesteckt hätte und dann zur Tram gegangen und davon gefahren sei. Die beiden Polizisten seien daraufhin zu der Stelle gegangen und hätten unter Blättern versteckt ein Cannabisdepot gefunden. Der Richter fordert den Zeugen auf, eine Skizze der Szene zu machen und die Prozessbeteiligten gehen zum Richterpult. B. gibt an, sich nicht mehr genau erinnern zu können, wo er bei der Beobachtung gestanden habe und weiß auch nicht, wie weit er von dem Angeklagten entfernt gewesen sei. Er weiß nur, dass sich alles in der Gegend der Warschauer Straße abgespielt hat, erinnert sich aber auch an die Straße nicht mehr, in der das Depot gefunden wurde. Er kann sich zudem nicht mehr daran erinnern, ob alle drei Päckchen zusammen oder etwas verteilt gelegen hätten. Er sagt wörtlich „Ich habe die Situation nicht mehr zu 100 % im Kopf, ich weiß nur, dass wir das Depot gefunden haben“. Abgesehen von dem Maschendrahtzaun und dem Auto kann er keine weiteren Anhaltspunkte zum Fundort geben und erinnert sich auch nicht, ob mehrere Autos dort standen. Laut Zeuge hatte der Angeklagte, bevor er zu dem Depot gegangen sei, Kontakt mit mehreren Personen gehabt, diesen aber nichts übergeben. Der Richter vermerkt, dass dies im Widerspruch zum damaligen Zeugenbericht steht, in welchem angegeben ist, dass der Angeklagte verschieden Personen etwas übergeben hätte. Da der Angeklagte erst zwei Tage später festgenommen wurde, fragt der Richter, wie der Zeuge ihn wiedererkannt habe. Der Zeuge gibt an, Senghore bereits zum Zeitpunkt der Beobachtung am 17. Januar vom Sehen her gekannt zu haben, da er bereits mehrere Einsätze in der Gegend der Warschauer Straße hatte und er ihn dort wiederholt gesehen habe. Der Richter zeigt auf Senghore und fragt „Ist das der hier?“, was B. nach einem kurzen Seitenblick zum Angeklagten bejaht. B. gibt an, Senghore am Tag der Festnahme wiedererkannt zu haben, unter anderem weil dieser die gleiche Kleidung trug. Er erinnert sich jedoch nur an seine schwarze Jacke. Der Richter spricht von einer olivfarbenen Kargohose und schwarzen Turnschuhen, B. wörtlich: „Wenn ich das so geschrieben habe, wird das wohl so sein, ich will jetzt aber auch nichts Falsches sagen. Ich erinnere mich nur an die schwarze Jacke.“
Nachdem der Richter seine Fragen beendet hat, stellt die Staatsanwältin eine Frage an den Zeugen, die jedoch aufgrund des durch das Dolmetschen hervorgerufenen Geräuschpegels akustisch nicht verständlich ist. Daraufhin stellt der Rechtsanwalt Fragen. Er stellt zunächst fest, dass der Zeugenbericht von B. erst am 3. Februar, zwei Wochen nach dem Depotfund, geschrieben wurde. Auf Nachfrage sagt der Zeuge, er könne sich nicht mehr erinnern, wie viele Einsätze er in diesem Zeitraum hatte. Auch die Strafanzeige sei von seinem Kollegen F. erst eine Woche nach der Beobachtung geschrieben worden. B. habe die Personenbeschreibung Senghores von F. erhalten und die beiden seien daraufhin zur Warschauer Straße gefahren, um diesen zu beobachten. Darüber hinaus kann er nicht sagen, wie viele Personen ihm an der Warschauer Straße bekannt sind. Er sagt, er habe Senghore während der Beobachtung auch von vorne gesehen, allerdings weiß er nicht, aus welchem Abstand und es sei zudem dunkel gewesen. Auf die Frage des Rechtsanwalts, warum Senghore nicht am selben Tag festgenommen wurde, antwortet der Zeuge, sie seien zu weit von der Tram entfernt gewesen, in die Senghore eingestiegen sei. Er und sein Kollege hätten den Depotfund danach aus „taktischen Gründen“ sichergestellt, anstatt die Stelle weiterhin zu beobachten. Der Rechtsanwalt sagt, dass dies ein Fehler gewesen sei. Die Frage, warum die Strafanzeige nicht direkt geschrieben wurde, wenn er Senghore schon kannte, kann der Zeuge nicht beantworten. Der Rechtsanwalt fragt, wie er Senghore erkannt habe, ob es an seinem Gesicht irgendetwas Besonderes gäbe. B. verneint dies und sagt, der Angeklagte sähe „ganz normal“ aus. Der Rechtsanwalt erklärt, dass er keine weiteren Fragen habe. (Es ist hier anzumerken, dass der Richter während der Befragung des Rechtsanwalts fast fortwährend ein geringschätzig wirkendes Lächeln hat und hin und wieder seine Brille abnimmt und scheinbar betont ausgiebig seine Augen reibt, so als wäre ihm die Befragung durch den Rechtsanwalt lästig.)
Nachdem der Richter noch fragt, wie es sein konnte, dass die beiden Zeugen die Gerichtsvorladung nicht erreicht habe und B. dies nicht beantworten kann, wird der Zeuge um 13:53 entlassen.
Nachdem der Rechtsanwalt den Richter nochmals dazu auffordert, bei der Spurensicherung anzurufen, um herauszufinden, ob in irgendeiner Hinsicht Details zu dem Befund abgespeichert wurden (es kommt wieder zu einem kurzen, erhitzten Gespräch), beantragt der Rechtsanwalt, Senghore bis auf Weiteres aus der Haft zu entlassen, da die Beweislage gegen ihn als Besitzer des Depots zu gering sei. Abgesehen von den nicht eindeutigen Ergebnissen der Spurensicherung sei auch die Zeugenaussage zu schwammig und mit der Strafanzeige widersprüchlich gewesen, um den Angeklagten als Täter zu belasten. Die Staatsanwältin entgegnet hierauf, dass der Zeuge seine Aussage vor dem Hintergrund, dass er kaum Vorbereitungszeit hatte, „spontan und authentisch“ vorgetragen habe. Darüber hinaus merkt sie an, dass Fluchtgefahr bestehe, da der Aufenthalt des Angeklagten in Deutschland bereits deutlich den im Schengener Abkommen gestatteten Zeitraum von drei Monaten überschreite. Auch der Richter verkündet, weiterhin einen dringenden Tatverdacht beim Angeklagten zu sehen und diesen deshalb nicht frei lassen zu wollen.
Der Richter kündigt den 29. August 2018 um 12:30 als zweiten Verhandlungstermin an und beendet die Verhandlung.