Prozess gegen Ali – 2. Verhandlungstag – 14.10.16
Die Eingangskontrollen sind schikanös. Die Zuschauer*innen müssen fast alles am Eingang abgeben, dürfen nur Bleistift und Papier mit in den Saal nehmen. Die Personalausweise werden kopiert und die Kopien werden durch eine Justizbeamtin an einen der beisitzenden Richter übergeben.
Anwesende:
- Senat: Drei Richter, zwei Richterinnen (von links nach rechts: R4, R2, R1, R3, R5)
- Ein Vertreter, eine Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft (StA 1 und StA 2)
- Eine Protokollantin
- Der Angeklagte (A), ein Dolmetscher (D) hinter einer Glasscheibe
- Zwei Verteidiger (RA Lukas Theune, V1, RA Schmitt, V2)
- viele Unterstützer*innen von Ali
Wir betreten den Gerichtssaal gegen 9:08. Die Richter*innen sind noch nicht anwesend, sie kommen einige Minuten später, die Verhandlung wird eröffnet.
Der Zeuge B. vom Bundeskriminalamt (BKA) wird aufgerufen, kommt in den Saal und wird belehrt. B gibt an, er sei Kriminalhauptkommissar beim BKA, 56 Jahre alt. B war nicht an den Ermittlungen gegen den Angeklagten beteiligt, sondern ist für die Ermittlung von Strukturdaten zur PKK als Organisation zuständig.
B wird zunächst ausführlich durch den Vorsitzenden, die beisitzenden Richter R2 und R3 sowie den Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft befragt. Im Folgenden geben wir einige teilwweise etwas kuriose Auszüge aus der Befragung von B im ersten Teil des Verhandlungstages wieder, die aus unserer Sicht belegen, dass der Zeuge wie auch die Richter*innen und der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft erstaunlich wenig über die Organisationen wissen, an deren Verfolgung sie zentral beteiligt sind. Ein inhaltliches Protokoll des zweiten Verhandlungstag gibt es unterfolgendem Link.
Die Ausführungen von B klingen, als hätte er zur Vorbereitung auf die Sitzung einen Wikipedia-Artikel auswendig gelernt, die Inhalte aber nicht durchdrungen. Er nennt ständig Abkürzungen von diversen Organisationen bzw. Gremien aus der kurdischen Bewegung, scheint aber nichts darüber zu wissen, wie diese inhaltlich arbeiten, welche politischen Ziele sie verfolgen und in welchen politischen Kontexten sie entstanden sind und agieren. Entsprechend hat er offensichtlich Schwierigkeiten, sich die jeweiligen Bezeichnungen zu merken. Er sagt wörtlich: „Ich bin mir aber nie 100 Prozent sicher bei den vielen Bezeichnungen. […] Also E steht immer für Europa.“
Zu Aktivitäten in Europa befragt, berichtet B unter anderem, dass die PKK Spendenkampagnen durchführe. Es würden auch Quittungen ausgestellt, die die Ermittler auch bereits „eingesammelt“ hätten. R1 interessiert sich besonders für die Spendenquittungen: Als Steuerzahler interessiere ihn deren Funktion. Diese Quittungen könne man doch wohl nicht beim Finanzamt absetzen. B erklärt, dass die Quittungen wahrscheinlich der Kontrolle und Dokumentation der Finanzen dienten.
Später fragt R1 nach dem Prinzip der Doppelspitze. B erläutert, dass es in der PKK üblich sei, Positionen paritätisch mit einem Mann und einer Frau zu besetzen. Die Frauen hätten auch eine eigene autonome Struktur innerhalb der PKK. Das BKA nehme an, dass in Deutschland die regionale Leiterin der Frauenstruktur jeweils die entsprechende Doppelspitze mit besetze. R1 fragt nochmal nach: „Wissen Sie, warum das so ist? Frauenquote wäre jetzt wohl das falsche Wort…“ B erwidert, es gebe sehr wohl eine Frauenquote in der PKK (40 Prozent). Es gehe dabei um „die Hervorhebung“ der Rolle der Frau. R1 scheint mit dieser Erklärung immer noch nicht zufrieden zu sein. Er macht auf uns den Eindruck, als vermute er hinter dem Prinzip der Doppelspitze eine böse Absicht, die sich nicht auf den ersten Blick erschließt, und fragt nochmal: „Aber warum die Doppelbesetzung?“ Nun antwortet B, er nehme an, dass die Frauen zwar mitarbeiten würden, die Männer aber die Funktion so ausüben würden wie zuvor.
Als B Newroz sagt, spricht er das z wie „z“ aus.
Später geht es in der Befragung um das Attentat in Suruç. R1 erkundigt sich beim Dolmetscher nach der richtigen Aussprache: ob „Suruk“ richtig sei oder ob das „Sürük“ heiße. Sowohl der Dolmetscher als auch V1 nennen die richtige Aussprache. R1 fragt V1 daraufhin anerkennend, woher er das wisse. Dieser antwortet, der Ort sei ja sehr häufig in den Medien genannt worden.
Befragung durch den Staatsanwalt:
Der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft fragt, ob die PKK als Schlichter bei Streitigkeiten auftrete, auch bei Streitigkeiten finanzieller Art. B bejaht dies und ergänzt, er wolle ein Beispiel aus Bremen nennen, das ihm dazu gerade eingefallen sei. Es sei um eine „junge Frau“ und einen „behinderten Mann“ gegangen, beide hätten zusammen kommen wollen, die Familie sei aber dagegen gewesen. Man habe deswegen die PKK gerufen, um den Konflikt zu schlichten, beide – die Frau und der Mann – seien aber letztlich umgebracht worden. Der Vorsitzende kommentiert: das scheint ja keine erfolgreiche Schlichtung gewesen zu sein [kurz Heiterkeit beim Vorsitzenden und beim Staatsanwalt]
Später fragt der StA1 den Zeugen, ob ihm „Rojava“ etwas sage (dabei spricht er das j wie „j“ aus). B bejaht die Frage, verwendet die korrekte Aussprache und sagt, es handele sich um den kurdischen Teil Syriens.
Nach einer kurzen Unterbrechung übernimmt V2 das Fragerecht. Er ist der Erste, der nach Hintergründen und politischen Kontexten fragt. Dabei stellt sich heraus, dass der Zeuge jenseits der abstrakten Strukturdaten, die er im ersten Teil der Befragung referiert hat, über die kurdische Bewegung erstaunlich wenig zu wissen scheint. Mehrfach entsteht der Eindruck, dass B sich durch die Fragen von V2 unter Druck gesetzt bzw. bloß gestellt fühlt. V2 betont daraufhin, es sei ja nicht seine Aufgabe zu entscheiden, was der B wissen oder ermitteln müsse. Er wolle ja lediglich herausfinden, was B wisse. Und wenn B Dinge nicht wisse, müsse er, V2, überlegen, wie er aus anderen Quellen die fehlenden Informationen beschaffen könne.
Beispielsweise kann der Zeuge zu den Inhalten des letzten Treffens der PKK in Europa in der Schweiz im Mai/Juni 2016 keine Angaben machen – er habe den Bericht/Vermerk für dieses Jahr noch nicht geschrieben. V2 reagiert verwundert: ich stelle mir vor, dass Sie laufend ermitteln, dann müssten Sie doch zumindest vorläufig etwas sagen können. B wiederholt, wenn er seinen Bericht schreibe, müsse er sich dafür die Informationen zusammenstellen. Das habe er noch nicht gemacht, daher könne er die Frage nicht beantworten.
In der Befragung kommt V2 auch auf die Entstehungsgeschichte der PKK zu sprechen und fragt, ob B wisse, was vor dem Verbot der PKK passiert sei. B verneint dies. V2 formuliert die Frage daraufhin anders: Ob B wisse, wer die Verbotsverfügung ausgesprochen habe und was dem vorausgegangen sei. B verneint auch diese Frage. Schließlich fragt V2, ob B wisse, dass es in der Türkei 1980 einen Militärputsch gegeben habe. B sagt, dass ihm das bekannt sei. Auf weitere Nachfrage gibt er an, nicht zu wissen, ob die PKK vor oder nach dem Putsch verboten wurde.
Später in der Zeugenbefragung thematisiert V2 noch einmal das Attentat in Suruç. Er fragt, ob der Zeuge etwas über den Anlass des Treffens wisse. Er wird allerdings von R1 unterbrochen. R1 sagt, er habe dem Zeugen doch vorgehalten, dass es sich um ein Treffen von Aufbauhelfern gehandelt habe, die nach Kobane gehen wollten. Der Zeuge habe diese Information bestätigt. Es geht dann um mögliche Verbindungen zwischen dem IS und dem türkischen Staat und um den Vorwurf der PKK, der türkische Staat trage eine Mitschuld an dem Attentat. Wieder kann B eine Frage von V2 nicht beantworten und erklärt: „Ich ermittele ja nicht gegen den IS!“ V2 daraufhin lakonisch: Und gegen den türkischen Staat ermitteln Sie auch nicht, deshalb haben Sie ja auch die Bombardierungen [ganzer Städte im Osten der Türkei] nicht erfasst.
12:05 Mittagspause
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