Ort: Amtsgericht Tiergarten, Raum 572
Zeit: 19.11.15 9:15 bis 15:30 h
Vorgeschichte (Quelle: PM von KOP)
Am 14. März 2012 wurde Ayfer H. durch Berliner Polizisten beleidigt, bedrängt, zu Boden gerissen und unter Schlägen fixiert. Sie trug Prellungen und Hämatome am ganzen Körper davon. Vorangegangen war ein Konflikt mit Lehrer_innen in der Schule ihres Sohnes. Ayfer H. machte den Vorfall öffentlich und sprach von Polizeigewalt gegenüber ihr als Migrantin. Sie schaltete die Beratungsstelle „ReachOut“ ein und wurde auch von der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt/KOP unterstützt. Die „Hürriyet“ berichtete von dem Vorfall. Eine Anzeige gegen 2 Polizisten wegen „Körperverletzung im Amt“ bleibt ergebnislos. Stattdessen wird Ayfer H. im März 2013 wegen „Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte“ verurteilt. In einem Berufungsverfahren im August 2013 wehrt sie sich und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizisten. Mehrfach wird sie als „Furie“ und „hysterisch“ diskreditiert, ihr wird unterstellt sie „ziehe die Ausländerkarte“ und „manipuliere“ Bürgerrechtsorganisationen. […]
Seit dem 21.9.2015 führt die Berliner Staatsanwaltschaft die Hauptverhandlung wegen „falscher Verdächtigung“ gegen Ayfer H.
Anwesend:
- R – Richterin (weiß)
- StA – Staatsanwältin (weiß)
- V– Verteidigung (weiß)
- Mitarbeiterin/Referendarin der Verteidigung (PoC)
- A – Angeklagte Ayfer H. (PoC)
- Dolmetscherin (PoC)
- 2 Schriftführer_innen/Protokollant_innen (weiß)
- Z – Zeugin Fr. P (PoC)
- Zu Anfang 6, später 3 Prozessbeobachter_innen von der Prozessbeobachtungsgruppe/KOP (mehrheitlich weiß)
- 2 Polizeibeamt_innen als Beobachter_innen (weiß), einer davon war bei dem hier verhandelten Geschehen anwesend. Die zweite Person gehörte zur inneren Revision der Polizei.
- 2 weitere Beobachter_innen (weiß)
Ablauf der Verhandlung
Frau P. (Z) kommt in den Zeugenstand. Sie war als Begleiterin mit A bei der Schulkonferenz. Zu ihren Beobachtungen macht sie folgende Angaben: Als der Direktor sich gleich zu Beginn der Konferenz gegenüber A respektlos verhalten habe, habe sie sich eingemischt und sei daraufhin des Saals verwiesen worden. Daher habe sie die weitere Eskalation nicht beobachten können. Sie habe zuvor jedoch mitbekommen, dass der Direktor die Polizei herbei rufen wollte und habe deshalb auch selbst die Polizei gerufen. Aus diesem Grund seien später zwei Mannschaftswagen vorgefahren. Ein paar Polizisten seien in die Schule gegangen, weitere hätten mit ihr vor der Schule gewartet.
Später, als sie vor der Schule gewartet und die Polizei sich bereits in der Schule befunden habe, habe sie einen Anruf von A bekommen: diese sei aufgebracht und verzweifelt gewesen, habe „Hilfe, Hilfe, die töten mich“ gerufen. Mit einem Polizisten sei sie in die Schule zurückgegangen und habe gesehen, dass A verletzt und gefesselt auf dem Boden saß. Ihre Wange sei gerötet gewesen, sie habe ein blaues Auge gehabt und ihre Haare seien durcheinander gewesen. Sie habe dann den Direktor gefragt, ob er jetzt zufrieden sei. Daraufhin seien auch ihr Handschellen angelegt worden.
R belehrt, dass Z keine Angaben machen müsse, die sie selbst belasten würden. Wörtlich: „Deshalb frage ich gar nicht was da mit dem Direktor war.“ Stattdessen fragt sie nach dem Ablauf des Gesprächs mit dem Direktor, woraufhin Z das Geschehen noch einmal schildert um einige Aspekte präzisiert.
R hält vor, dass ein Polizei-Zeuge ausgesagt habe, A habe eine Tasche nach ihm geschleudert und dies habe zur Eskalation der Situation geführt. Z bestätigt dies und sagt sie habe sich schon damals ungläubig gezeigt, dass es wegen einer Tasche so weit gekommen sein soll.
Z berichtet weiter, sie sei mit A ins Krankenhaus gefahren und habe von dort die Polizei angerufen, die die Verletzungen von A dokumentiert hätten.
R fragt, ob Z darüber hinaus noch etwas unternommen habe.
Z: Die Konstellation „drei Polizisten gegen eine Frau„ habe sie als ungerecht empfunden. Daher habe sie A ins türkische Konsulat, zur türkischen Tageszeitung Hürriyet und zu ReachOut begleitet. Die folgenden Fragen der Richterin zielen darauf ab, zu klären, von wem die Initiative dafür ausgegangen ist. Z gibt an, von beiden. A habe mitgemacht und die Entscheidungen mitgetragen. R hakt nochmal nach, von wem die Ideen im Einzelnen gekommen seien, daraufhin präzisiert Z: Die Beratungsstelle ReachOut habe die Anwältin von A empfohlen, bei Hürriyet habe sie (Z) jemanden gekannt. Die Idee zum Konsulat zu gehen sei auch von ihr (Z) gekommen.
R kommt nochmal auf die Eskalation in der Schule zu sprechen: offenbar kann sie sich nicht vorstellen, dass der Schuldirektor gleich zu Beginn ausgerastet ist beziehungsweise sich gleich respektlos gegenüber A verhalten hat. Z bleibt jedoch dabei, dass das Gespräch nur zwei Minuten gedauert habe. Sobald A angefangen habe etwas zu erklären, sei er ihr in respektloser Weise ins Wort gefallen. Der Direktor habe sie angeschrien, als ob sie schwerhörig sei („Hallo, hallo, verstehen Sie mich“). Als A gesagt habe, dass sie sich gerne den Unterricht anschauen würde (Hintergrund: der Sohn von A sollte auf eine Sonderschule geschickt werden), habe der Direktor erwidert: „Wir sind hier kein Theater. Das ist ein Klassenzimmer.“
R erteilt der Staatsanwältin (StA) das Fragerecht. Diese will wissen, wer was erzählt habe, als A und Z zu den „Institutionen“ gegangen seien. V unterbricht: Z habe nicht von „Institutionen“ gesprochen. StA reagiert genervt. Sie will wissen, wer bei ReachOut, der Zeitung was gesagt habe. Sie hält der Z vor, sie sei doch bei der Auseinandersetzung gar nicht dabei gewesen, ob sie denn gewusst habe, wo die Verletzungen der A hergekommen seien? Handlungen habe sie doch nicht beobachtet?
Z erklärt, sie selbst habe erzählt, was zu Beginn und am Ende passiert sei, A habe erzählt, was während Zs Abwesenheit passiert sei. Z entgegnet darüber hinaus, dass sie davon ausgehe, dass die Verletzungen von den Polizisten gekommen sein müssten, (drei Polizisten gegen eine Frau in einem Raum, danach sitzt die Frau verletzt und gefesselt am Boden „das was ich gesehen habe, hat mir gereicht“).
R übergibt das Fragerecht an V. RA möchte wissen, wie Z A beschreiben würde, ob es vorher mal ähnliche Vorfälle, Hausverbote o. Ä. gegeben habe. Z verneint dies. V fragt genaueres zu der Situation, in der Z wieder in den Raum zurück gekommen ist und A gefesselt und verletzt am Boden aufgefunden habe. Er fragt u. a. ob As Haare durcheinander gewesen sein. Darauf hin erzählt Z, dass A Haare ausgerissen gewesen seien. Es hätte so ausgesehen, als habe ein Kampf stattgefunden oder als sei A an den Haaren festgehalten worden. Die ausgerissenen Haare hätten A und Z dann in einer Tüte aufgesammelt und auch der Zeitung Hürryet gezeigt.
Auf Nachfrage von V gibt Z an, dass A Probleme mit den Bandscheiben habe, und A die Polizei auch darauf hingewiesen habe, entsprechend vorsichtiger mit ihr umzugehen.
R fragt A ob sie selbst auch Fragen an die Zeugin habe. A sagt ganz leise – kaum hörbar – „nein“.
Die Zeugin wird um 9:55 Uhr entlassen, daraufhin kommt es zu einer kurzen Diskussion über die Höhe des Ordnungsgelds, weil Z bei der ersten Ladung nicht erschienen war. R schlägt eine Reduktion von 200 auf 100 Euro vor (dabei schaut sie die StA an), die StA fordert 150, R bleibt aber bei 100 Euro. Z verlässt den Saal um 10:00 Uhr.
Daraufhin nimmt die StA zu Beweisanträgen der Verteidigung vom 06.10.15 Stellung. Sie beantragt, alle Anträge abzulehnen (Beweisantrag 1 wegen Bedeutungslosigkeit, Anträge 5-8 weil sie ungeeignet seien, Antrag 4 werde als wahr unterstellt). Während der Stellungnahme kommt es zu Missverständnissen/Unklarheiten bezüglich der Nummerierung der Anträge; StA reagiert ungehalten auf Nachfragen der V. Sie redet schnell, obwohl V sie bittet, so zu sprechen, dass er mitschreiben kann und meint, hier würde ja alles „etwas querbeet gehen“.
V bittet um eine 20minütige Unterbrechung, um sich mit seiner Mandantin zu besprechen. Die Verhandlung wird um 10:05 unterbrochen, fortgesetzt wird um 10:28 Uhr.
V nimmt zur Stellungnahme der StA Stellung: Gegen die Ablehnung zu 4 (als wahr unterstellt) habe er keine Einwände. Dass die StA den Antrag zu 1, den Familienhelfer der A zu hören, wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt habe, verwundere ihn, denn der Familienhelfer sei doch in der Berufungsverhandlung am Landgericht gehört worden. Er könne über den Kontakt der A zu Behörden Auskunft geben und bezeugen, dass A gewöhnlich sehr besonnen im Kontakt mit Schulen und Behörden agiert habe, sich bei Problemen stets gekümmert und sich wenn nötig Hilfe geholt habe. Darüber hinaus könne er auch etwas zu der Situation während der Schulkonferenz sagen, weil A versucht habe, ihn anzurufen.
Bei den Anträgen zu 5-8 gehe es um Ärzte/Psychiater, bei denen A zum Teil seit Jahren in Behandlung sei, weil sie an einer schweren Rückenverletzung leide. Diese könnten helfen zu erklären, warum es zu der plötzlichen Eskalation gekommen sei: als ein Polizeibeamter A geschoben habe, sei diese in Panik geraten, weil sie panische Angst gehabt habe, am Rücken verletzt zu werden. Deswegen habe sie die Hände mit der Tasche hochgerissen, was durch die Polizeibeamten als Angriff gewertet worden sei.
Die StA habe im Übrigen auch die Aufgabe, entlastende Dinge aufzuklären, das liege aber wohl nicht im Interesse dieser StA. (Dies habe schon die einseitige Befragung der Zeugen während der Beweisaufnahme gezeigt.)
Während der Erklärung von V sitzt die StA die meiste Zeit zurückgelehnt, schaut abschätzig.
R erklärt, sie werde sich zehn Minuten zurückziehen, um über die Anträge zu entscheiden (10:40). Um 10:49 Uhr wird fortgesetzt. R erklärt, dass alle Beweisanträge vom 06.10.15 abgelehnt würden. Der Antrag zu 1 werde als wahr unterstellt, der Antrag zu 3 sei bedeutungslos, der Antrag zu 4 werde als erwiesen angesehen, die Anträge zu 5-7 seien wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit abzulehnen, sie würden nämlich nur mögliche, jedoch keine zwingenden Schlüsse zulassen: „Da hätte ja auch ein heftiger Windstoß die Handtasche hochreißen können, dazu könnte ich ja auch einen Gutachter hören“. Zum Geschehensablauf seien alle unmittelbaren Zeugen gehört worden. Für den von V „unterstellten Ablauf“ der Ereignisse gebe es keine Indizien. Dafür, dass ein Einwirken auf A seitens der Polizeibeamten eine Abwehrbewegung provoziert habe, gebe es keine Zeugen. Der betreffenden Polizeibeamte habe (als Zeuge vor Gericht) lediglich ein leichtes Schieben von A beschrieben. Dass ein solches bei A eine Angst vor einen Sturz ausgelöst haben solle, sei „abwegig“.
Der Antrag zu 8 sei ungeeignet, er habe keinen Erkenntniswert.
R will daraufhin die Beweisaufnahme schließen.
V unterbricht: er wolle eine Gegendarstellung; von einem Windstoß habe er in seiner Stellungnahme nichts gesagt. R sagt daraufhin, sie wisse, dass V nichts von einem Windstoß gesagt habe, dies sei lediglich ein Beispiel gewesen. V betont, er habe von einer Rückenverletzung gesprochen, dies sei etwas völlig anderes. Er habe sich bei Experten schlau gemacht. Eine solche Verletzung würde bei den Betroffenen eine ständige Angst zu fallen verursachen. Seine Erklärung sei demnach durchaus plausibel. V erklärt weiterhin, dass ja gerade andere Zeugen bestätigt hätten, dass A plötzlich in Panik geraten sei, daher sei es doch wichtig, den Grund aufzuklären. Zu 8 erklärt er, da R die Anhörung des langjährigen Psychologen/Psychiaters der A abgelehnt habe, beantrage er, ein Glaubwürdigkeitsgutachten durch einen Sachverständigen einzuholen. V bittet um eine Pause, um den Antrag schriftlich fassen zu können.
Die Verhandlung wird um 11:00 für 90 Minuten unterbrochen.
12:30 Uhr: Alle sind schon im Saal, warten auf V und A. R und StA wirken verärgert; R stellt fest, sie könne nichts machen, da V ja die Akte mitgenommen habe. Der Protokollant macht einen Witz: „Sind Sie sicher, dass wir HEUTE noch mit dem Prozess fortfahren?“ Alle lachen. Dann beginnt die StA, von ihrem Urlaub zu erzählen. Nach einigen Minuten kommen V und A zurück, um 12:37 Uhr wird fortgesetzt. R eröffnet mit dem Satz „so, was ham sie noch Herr Rechtsanwalt“.
V zitiert aus einem BGH-Urteil zu Bedeutungslosigkeit, um die ablehnende Entscheidung der R zu den Anträgen 5-7 in Frage zu stellen.
R nimmt den neuen Antrag von V zur Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens zur Akte. Die StA beantragt, den Antrag abzulehnen, sie sehe keinerlei Anhaltspunkte, die Notwendigkeit eines solchen Gutachtens begründen würden. V erwidert, es gebe sehr wohl Anhaltspunkte: die A sei jahrelang wegen ihres Rückenleidens in Behandlung gewesen, es habe eine plötzliche Eskalation gegeben, schließlich gebe es die als wahr unterstellte Annahme, dass es zwischen A und anderen Behörden bisher niemals zu einer Eskalation gekommen sei.
R verkündet den Beschluss, dass der Antrag auf Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens abgelehnt werde. Es sei die Aufgabe des Gerichts, die Glaubwürdigkeit zu beurteilen, hierzu werde kein Psychiater benötigt.
12:44 Uhr: R will die Beweisaufnahme schließen. StA wirft ein: „ist der Auszug aus dem BZR [Bundeszentralregister] schon eingeführt worden?“ R: „Machen wir das sicherheitshalber“. Danach verließt sie, dass A einen Eintrag wegen Widerstandshandlungen habe. [Anm. d. Verf.: Es handelt sich hierbei um eine Verurteilung wegen des selben Vorfalls, der auch hier verhandelt wird.]
Es folgt das Plädoyer der StA: In ihrer Einlassung habe die A von einer Abmachung in der Berufungsverhandlung gesprochen. V und StA hätten vereinbart, dass die Berufung auf das Strafmaß beschränkt werde und es im Gegenzug kein weiteres Verfahren gegen A geben werde. Die Einlassung der A sei jedoch in der Beweisaufnahme widerlegt worden. Oberstaatsanwalt K habe sich in der Berufungsverhandlung „echauffiert“, er habe verlangt, dass A ihre Vorwürfe gegenüber den Polizeibeamten in der Hauptverhandlung zurücknimmt, das aber sei nicht geschehen. Selbst die RAin B, die A in dem vorherigen Verfahren vertreten hat, habe sich an eine solche Abmachung nicht mehr erinnern können. Im Übrigen sei die (angebliche) Verständigung auch nicht protokolliert worden.
Zudem habe sich A in der Berufungsverhandlung überlegt und gelassen gezeigt (Wörtlich: „Ich sag mal, das Verteidigungsverhalten hat nicht gefruchtet“). Die falschen Anschuldigungen gegenüber den Polizeibeamten würden sich also nicht dadurch erklären lassen, dass A etwas verwechselt habe o. Ä.
Bei dem Geschehen in der Schule habe es sich nicht um einen Tumult gehandelt. Die abweichenden Aussagen der Zeugen und der Angeklagten könnten demnach nicht dadurch erklärt werden, dass die Angeklagte eine andere Wahrnehmung gehabt haben könnte. Die unterschiedlichen Geschehnisse und Beschreibungen „können sich nicht überschneiden, missgedeutet, falsch verstanden werden oder was auch immer“. Die StA schließt daraus, dass die Angeklagte mit ihrer Schilderung „frei erfundene Geschichten“ erzählt habe. Beim Vorwurf der Polizeigewalt gebe es keine ansatzweise Überschneidung mit dem tatsächlichen Geschehen. Wörtlich: „Die Einzige die hier um sich geschlagen hat, war die Angeklagte“. Sie habe sich folglich der falschen Verdächtigung in Tateinheit mit Verleumdung schuldig gemacht.
Zum Strafmaß: Mildernd wirke sich aus, dass die Situation in der Hauptverhandlung im vorangegangenen Verfahren angespannt gewesen sei. Strafverschärfend wirke sich indessen aus, dass die Beschuldigungen über einen langen Zeitraum – bis zum Höhepunkt in der Hauptverhandlung – erhoben worden seien (wörtlich: „die Art und Weise der Tatausübung sucht seinesgleichen“). Es handele sich um Beschuldigungen „von wirklich übler Art“, um „billige Hetze“. Diese habe die A „planvoll und bedacht forciert“, ihre Vorgehensweise sei „perfide“ gewesen.
Die StA fügt hinzu, sie finde es besonders bemerkenswert, wen A alles für sich „mit ins Boot“ geholt habe. Allgemein es sei positiv, dass es „gewisse Institutionen“ [gemeint ist ReachOut] gebe, denn sie wolle ja gar nicht abstreiten, dass „so was wie Polizeigewalt“ vorkomme – aber die beiden Polizeizeugen, die hier beschuldigt wurden, seien so ruhig und besonnen gewesen und hätten in der Situation deeskalierend gewirkt (wörtlich: „noch deeskalierendere Polizisten gibt es doch gar nicht“) – andere Polizeibeamte hätten vielleicht ganz anders reagiert. Es sei schlimm, wenn Opferberatungsstellen so ausgenutzt und instrumentalisiert würden. Die StA finde es bedenklich, wie „ungeprüft derartige Personen sich derart vor den Karren spannen lassen“. Die Angeklagte habe „relativ rücksichtslos ihre Ziele verfolgt“. Milde Strafen würden in so einem Fall zur Bagatellisierung führen, dies könne dann wiederum genutzt werden um Stimmung zu machen. Wenn die Tat nicht streng geahndet werde, könne es Nachahmungseffekte geben. Dies müsse insbesondere hinsichtlich der „aktuellen schweren Situation“ unbedingt vermieden werden (Anmerkung der Verf.: Wir waren uns nicht sicher, was die StA hiermit gemeint hat. Mögliche Deutungen sind die Anschläge in Paris am 13.11.15 oder die sogenannte Flüchtlingskrise sowie rassistische Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte).
Die StA fordere daher „noch“ eine Geldstrafe, diese solle aber erheblich ausfallen: 200 Tagessätze à 20 Euro. Darüber hinaus solle die Entscheidung unter Nennung des vollen Namens der A in der Hürriyet veröffentlicht werden.
Um 13:02 wird für 30 Minuten unterbrochen, damit V sein Plädoyer vorbereiten kann.
Um 13:45 Uhr wird fortgesetzt.
Es folgt das Plädoyer der Verteidigung: V beginnt mit der Bemerkung, dass es sich um ein ungewöhnliches Strafverfahren mit einigen Besonderheiten handele. Der Oberstaatsanwalt K sei als Zeuge mit zwei Bodyguards erschienen, er habe sich in ungewöhnlicher Weise dafür stark gemacht, dass A Konsequenzen drohen (er habe in der Verhandlung am Landgericht gedroht, er werde persönlich Anzeige erstatten, wenn A die Anschuldigungen nicht zurücknehme).
Das Plädoyer der StA sei stellenweise „unter der Gürtellinie“ gewesen: sie habe der A vorgeworfen, sie habe billige Hetze betrieben, sie habe alle möglichen Leute instrumentalisiert. Wenn man auf dem Boden der Tatsachen zurückkehre, zeige sich doch folgendes Bild: die A sei eine alleinerziehende Mutter, sie habe einen Sohn in der Pubertät gehabt, sie habe sich vorbildlich um alles gekümmert, habe sich einen Familienhelfer besorgt, niemals seien von ihr Aggressionen ausgegangen, auch habe sie zuvor nie jemanden zu Unrecht beleidigt und belastet. Vor diesem Hintergrund müsse die angebliche Schuld seiner Mandantin bewertet werden.
V kommt nun auf das Urteil des Landgerichts zu sprechen, das im jetzigen Verfahren verlesen wurde. Darin wurde das Nachtatverhalten der A als strafverschärfend bewertet, es sei von „großer sozialer Schädlichkeit“ gewesen, denn es habe die Polizei in Misskredit gebracht und das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gefährdet.
V betont, dass es doch nicht verboten sei – spätestens seit den 80er Jahren – dass Verfahrensbeteiligte ihre Sicht der Dinge öffentlich darstellen. Der Vorwurf, A würde mit diesem Verhalten das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gefährden, stelle die Dinge auf den Kopf. Wenn jemand mit „man spricht hier wohl von Migrationshintergrund“ an eine Zeitung heran trete und in eigener Sache Stellung nehme, sei dies vielmehr ein positives Zeichen, weil auch „Menschen mit Migrationshintergrund“ an der öffentlichen Debatte teilnehmen. Dass nun A dieses Recht abgesprochen werde, weil sie einen Migrationshintergrund habe, komme einer rassistischen Diskriminierung gleich.
Insgesamt sei das Verfahren gegen A unfair: ihr sei damals zugesagt worden, dass gegen ein fiktives Schuldeingeständnis die Drohung des Oberstaatsanwalts K nicht wahrgemacht würde. Nur deshalb habe A (bzw. ihre damalige Verteidigerin) die Berufung auf das Strafmaß beschränkt und keine weiteren Beweisanträge gestellt. [Anm. d. Verf.: das fiktive Schuldeingeständnis ist so zu verstehen: Wenn die Berufung auf das Strafmaß beschränkt wird, wird die Art, wie das Gericht in erster Instanz die fraglichen Ereignisse und Taten aufgeklärt hat, nicht mehr in Frage gestellt, es geht dann nur noch um die rechtliche Bewertung dieser Taten und Ereignisse. Mit der Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß in der Berufungsverhandlung hat A also anerkannt, dass sie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet hat.] Um dies zu bestätigen, solle Biplab Basu von der Beratungsstelle ReachOut als Zeuge benannt werden. Es habe im Übrigen keine formelle Zusage gegeben, deswegen sei die Verständigung auch nicht protokolliert worden.
Die eigentliche Einlassung der A sei entscheidend: sie habe niemanden wissentlich zu Unrecht belastet. Diese Einlassung sei mitnichten widerlegt worden, insbesondere nicht durch die Aussagen der Polizeibeamten und des Direktors.
[Anm. d. Verf.: während des Plädoyers von V starrt R die ganze Zeit über geradeaus; StA sitzt zurückgelehnt, schaut gelangweilt und abschätzig.]
V fährt fort: es ergebe doch aus Sicht der A überhaupt keinen Sinn, sich mit Polizisten anzulegen. Es sei ihr doch um die Schule gegangen. Die habe sie jedoch nicht schlecht gemacht. Für die Nachtaten sei ausschlaggebend, dass die RAin B die A an ReachOut verwiesen habe, den Kontakt zur Zeitung habe die Freundin (Z) hergestellt. Diese Ideen seien somit nicht von A gekommen. Ihr in diesem Zusammenhang Instrumentalisierung und Perfidität vorzuwerfen, sei absurd. Ihr Anliegen sei Gerechtigkeit gewesen, deswegen habe sie die Anzeige gemacht.
Zum Vorfall in der Schule sei das Plädoyer der StA „dünn, um nicht zu sagen gegenstandslos“. Es basiere darauf, das A die einzige gewesen sei, die in der Situation geschlagen habe. Die StA sei jedoch mit keinem Wort auf die Verletzungen der Mandantin eingegangen, dabei sei das doch das einzige, was durch objektive Beweismittel (Attest ausgerissene Haare) erwiesen sei.
In den Zeugenaussagen gebe es zum Moment der Eskalation erhebliche Widersprüche. Das ärztliche Attest zeige keine Verletzung bei den Polizeibeamten oder Lehrern, allein A sei verletzt gewesen. V geht auch auf das „Standartargument“ ein, bei Polizeizeugen gebe es keine Belastungstendenz. Er weißt darauf hin, dass Polizeizeugen geschult seien und genau wissen würden, wie sie aussagen müssten um als glaubhaft zu gelten. Darüber hinaus widerspreche die Aussage des Direktors der der Polizeibeamten. Es handele sich beim Vorgehen der Polizeibeamten nicht um ein Musterbeispiel von Deeskalation; A sei wie eine Verbrecherin behandelt worden, die in Handschellen abgeführt werden muss.
V beantragt, A freizusprechen. Hilfsweise stellt er den Antrag, Biplab Basu als Zeugen zu hören.
Die StA möchte zu V’s Eventualbeweisantrag nicht Stellung nehmen.
R erteilt deshalb nun der A das letzte Wort. Während A sich ausführlich äußert, schaut die StA immer wieder auf die Uhr, gähnt wiederholt. R sitzt jetzt der A zugewandt.
A sagt, sie habe drei Kinder allein großgezogen. Sie habe mehrere OPs an den Bandscheiben gehabt. Sie wolle nun etwas sagen, was eigentlich ein Geheimnis sei: Als sie 1998 im Krankenhaus gewesen sei, sei ihre 6-7 jährige Tochter sexuell missbraucht worden. A habe versucht ihrer Tochter zu helfen, sei deshalb zum Jugendamt gegangen und habe sich einen Familienhelfer besorgt. „Ich wollte dass sie gute Menschen sind, studieren und was aus ihrem Leben machen“. Ihr Sohn habe jedoch Probleme in der Schule gehabt. A habe in der Zeit eigentlich ein weiteres Mal operiert werden müssen, habe sich aber nicht getraut, aus Angst, dass ihren Kindern dann erneut etwas schlimmes passiere. Sie habe stattdessen beim Jugendamt Hilfe gesucht, in regelmäßigem Kontakt zur Schule gestanden. Die Schule wollte ihren Sohn auf eine Förderschule verweisen, dies wollte A jedoch nicht. Daraufhin habe die Schule A immer mehr bedrängt. [A weint]. Sie sei habe einen Psychologen um Rat gefragt, dieser habe bestätigt, dass ihr Sohn durchaus auf eine Regelschule gehen könne. Dies habe die Schule jedoch auch nicht ernst genommen und ihr stattdessen mit Sorgerechtsentzug gedroht, wenn sie ihren Sohn nicht auf die Förderschule schicke. Daraufhin sei es zu besagter Konferenz gekommen, auf der ihr erneut mit Sorgerechtsentzug gedroht wurde. A sei verzweifelt gewesen, sie wollte dafür Kämpfen, dass ihr Sohn auf eine Regelschule gehen kann. Mit dem Polizisten habe sie doch gar keine Probleme gehabt, warum hätte sie dann etwas gegen ihn tun sollen? Sie habe doch auch gar nicht gesagt, dass die Polizei im Allgemeinen sie geschlagen habe, nur eben dieser eine bestimmte Polizist. Sie betont, alles genau so wiedergegeben zu haben wie sie es erlebt habe, weder Personen noch Vereine missbraucht zu haben. A schließt mit: „Auch wenn sie mich verurteilen, ich habe die Dinge so erlebt. Das kann man nicht wegdiskutieren.“
Um 14:35 wird erneut für eine halbe Stunde unterbrochen. Um 15:05 Uhr wird das Urteil verkündet. Die A habe sich der falschen Verdächtigung in Tateinheit mit Verleumdung schuldig gemacht – wobei der Schwerpunkt auf Verleumdung liege – und sei zu 120 Tagessätzen à 20 Euro zu verurteilen. Darüber hinaus werden die Veröffentlichung der Entscheidung unter Nennung des Namens der A in der Zeitung Hürriyet angeordnet.
Zur Begründung führt R aus, dass sie nicht davon ausgehe, dass es in der Berufungsverhandlung eine informelle Absprache gegeben habe; die Zeug_innen hätten dies nicht bestätigt. Oberstaatsanwalt K habe vielmehr eine öffentliche Rücknahme der Beschuldigung erwartet. Der Fehler sei die Botschaft der vorherigen Verteidigerin an A gewesen: sie habe das Gespräch mit Oberstaatsanwalt K falsch verstanden, es habe in Wirklichkeit seitens der StA keine Zusage gegeben. Da es sich hier lediglich um ein Missverständnis handele, die Fakten aber klar seien, werde der Beweisantrag Biplab Basu als Zeugen zu hören abgelehnt. Es liege kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor.
Die beiden Polizeibeamten hätten unter der Verleumdung sehr gelitten. Polizeibeamter J habe gesagt, dass glücklicherweise noch „neutrale“ Zeugen (Schuldirektor und Lehrer) vor Ort gewesen seien; ansonsten sei es sehr unschön für Beamte, wenn ihnen Gewalt vorgeworfen werde („Wer weiß, wie das sonst hier ausgegangen wäre“). Dieser Satz sei ihr (R) besonders eindrücklich in Erinnerung gewesen.
Die Situation sei so abgelaufen: Die Schulkonferenz sei gescheitert, deshalb sei A aufgeregt und aufgebracht gewesen. Jedoch wäre „die ganze Situation […] nicht passiert, wenn A einfach gegangen wäre“. Das leichte Berühren an der Schulter durch den Polizeibeamten habe dann das Fass zum überlaufen gebracht (die Erklärung von V, es handelte sich um eine Abwehrbewegung aus Angst vor einem Sturz, bezeichnet R als „abwegig“). A hätte dies zum Anlass genommen „handgreiflich zu werden“. Sie habe damit die polizeilichen Maßnahmen provoziert.
R stellt fest, dass A tatsächlich zu Boden gebracht worden sei, auch sei tatsächlich „auf ihre Hand eingewirkt“ worden, um die Handfesseln anzulegen. Ausschlaggebend sei aber der Schlag von A mit der Handtasche gewesen; einen Schlag ins Gesicht habe es zuvor nicht gegeben, ebenso wenig wie den Ausspruch „Scheißtürkin“. Das sei im Übrigen ein „ziemlich massiver Vorwurf“. Der Ausruf am Telefon „Hilfe, Hilfe sie töten mich hier“ zeige, dass A von Anfang an übertrieben und die Dinge falsch dargestellt habe.
Fazit: Es habe keine Polizeigewalt gegeben, sondern A habe einen Polizeibeamten angegriffen.
Die Verhandlung endet um 15:30 Uhr.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.