Verfahren gegen Hıdır Yildirim – 7. Verhandlungstag

„Wenn mein Glaube, meine Identität mit den Füßen getreten werden, sollte sich keiner das Recht herausnehmen mir zu sagen, ich müsse im Angesicht all dessen Schweigen.“

Im Folgenden dokumentieren wir die zweite Erklärung, die Hıdır Yildirim am 12.10.2017 vor dem Kammergericht Berlin abgegeben hat:

„In meiner Erklärung habe ich versucht, meine nationale Zugehörigkeit und zum Teil auch meinen Glauben darzustellen. Ich habe das Bedürfnis, zusätzlich zu dieser Erklärung Ihnen auch meinen Glauben näher zu erläutern. Um zu verstehen, wie sehr mein Glaube meine politische Haltung und meine Identität bestimmt hat, ist diese zusätzliche Erklärung notwendig.

Der alevitische Glaube ist eine kommunale Naturreligion. Sein Fundament ist die Natur. Es ist keine Buchreligion. Dieser Glaube wurde über Generationen hinweg mündlich überliefert. Es ist eine humanitäre und anpassungsfähige Religion. Nach meinem Glauben ist das Leben jedes Lebewesens in der Natur heilig. Pflanzliche und tierische Lebewesen haben wie Menschen auch ein Recht auf Leben. So sieht es das Alevitentum. Die Aleviten sind Bergbewohner und eine Bauerngesellschaft. Sie sind Bergbewohner, da in den von ihnen besiedelten Gebieten der Islam der vorherrschende Glaube war, und sie aus Schutz Zuflucht in den Bergen suchen mussten. In dem sie die Berge bevorzugten, konnten sie ihr Leben aber auch die Rituale ihres Glaubens schützen. Der alevitische Glaube ist über die Institution der Ocaks in der Gesellschaft verankert. Die Ocaks sind die Glaubenshäuser der Familien, die Nachkommen des Propheten Ali sind. Sie sind hierarchisch organisiert, wie auch die alevitischen Geistlichen zu deren oberster Schicht die Mürşit, Pir, Rayber und Derviş gehören. Der Talip ist der Schüler, der den alevitischen Weg beschreitet. Der Pir (männlicher Geistlicher) und die Ana (weibliche Geistliche) sind gleichberechtigt. Pirs sind die, die den direkten Kontakt zu der Gesellschaft haben. Um die Würde eines Pir zu erhalten, muss man Angehöriger eines Ocaks sein. Für meinen Glauben sind alle 72 Nationen – so ein alevitischer Ausdruck – auf der Welt gleichberechtigt. Das Alevitentum unterscheidet die Menschen nicht nach Religion, Sprache und Rasse und beachtet diesen Grundsatz auch in seinen Handlungen. Für das Alevitentum ist jede Religion und jede Nation wertvoll, keine wird missachtet. Aus diesem Grunde bezeichnet Herr A. Öcalan das Alevitentum als den Sozialismus des Islams!

Nachdem im Nahen Osten der Islam die vorherrschende Religion wurde, waren Grausamkeit, Verfolgung und Massaker derjenigen, die nicht zum Islam übertraten, an der Tagesordnung. Der Heilige Ali und seine Familien wurden verfolgt und mussten einen hohen Preis zahlen. Er und seine Kinder wurden umgebracht.

Der jüngste Sohn des Heiligen Ali, der Heilige Hüseyin, machte sich auf den Weg nach Kerbala, einem Ort nahe der irakischen Stadt Kufa, um die Kinder und Frauen der Gemeinde sowie die übriggebliebenen Familienmitglieder zu retten. Auf dem Weg nach Kerbala wurde der Heilige Hüseyin von dem Muaviye in einen Hinterhalt gelockt. Der Muaviye verlangte vom Heiligen Hüseyin, um ihn am Leben zu lassen, dass dieser vor ihm niederknie und ihm Gehorsam schwöre. Der Heilige Hüseyin antwortet Muaviye daraufhin: Lieber sterbe ich im Stehen, als dass ich vor dir niederknie. Daraufhin wurde der Heilige Hüseyin geköpft, sein Kopf brachte Muaviye in sein Einflussgebiet und spielte in der Öffentlichkeit mit ihm wie ein Ball. Daher sind Ballspiele bei den Aleviten nicht gut angesehen. Nach dem Tod des Heiligen Hüseyins wurde als Zeichen der Trauer zwölf Tage lang gefastet. Das ist das Muharrem-Fasten.

Nach diesem Ereignis kam es zu einer Spaltung im Alevitentum in die Dschafariya, Schiiten und Hüseyins. Dschafariyas und Schiiten gehen in die Moschee und akzeptieren viele Prinzipien des Islams. Die Hüseyins werden auch Kızılbaş genannt (also die, die Widerstand leisten). Die Tradition des Heiligen Hüseyins ist die Tradition des Widerstands der kurdischen Aleviten in Dersim, Maraş, Malatya, Sivas und Erzincan. Die Kızılbaş Aleviten symbolisieren die Widerstandstradition des Heiligen Hüseyins. Während der Ausbreitung des Islams im Nahen Osten und in Anatolien wurden die Kızılbaş Aleviten Opfer vieler Massaker. Aleviten, die nicht zum Islam übertraten, wurden diffamiert. Die heutige vorurteilsbeladene Feindseligkeit gegen Aleviten hat ihren Ursprung in dieser Zeit. Im Osmanischen Reich unter der Herrschaft von Sultan Süleyman erließ der Kadi (Richter) Ebu Suud eine Fatwa gegen die Aleviten. In dieser Fatwa heißt es, wer sieben Aleviten umbringt, kommt in den Himmel. Nach dieser Fatwa begannen Aleviten ihre Identität und ihren Glauben zu verstecken.

Nach der Gründung der Republik wurden die türkischen Aleviten zum Teil weniger diskriminiert, die kurdischen Aleviten hingegen versuchte man zu türkiisieren oder ihnen einzureden, sie seien Türken. Diese Politik blieb nicht ohne einen gewissen Erfolg.

Die Saz, das Seiteninstrument, und die Deyiş, die gesungene religiöse Ballade, sind feste Bestandteile der Cem-Zeremonie. Der blinde alevitische Dichter Aşık Veysel Karani wanderte in den 60er Jahren von Dorf zu Dorf, spielte Saz und sang Gedichte bei den Cem-Zeremonien. Sobald die Staatsdiener davon erfuhren, nahmen sie ihm seinen Saz weg und verbrannten diese im Ofen. Seit dieser Zeit ist die Saz ein Tatwerkzeug.

In meiner ersten Erklärung habe ich schon über das Dersim-Massaker geschrieben. Daher werde ich in dieser Erklärung nicht darauf zurückkommen.

Im Jahre 1978 fanden in Maraş und in Çorum probeweise pogromartige Verfolgungen von Aleviten statt. In diesen Jahren war aber auch die revolutionäre Jugend gut organisiert und nur sie konnte die staatlichen und faschistischen Banden daran hindern, ihre Pläne vollständig umzusetzen. In Pazarcık bei Maraş wurden 250 kurdische Kızılbaş Aleviten grausam umgebracht. Hunderte von Häusern wurden geplündert und niedergebrannt. Hunderte Aleviten wurden in Çorum getötet. Nach diesen Pogromen verließ die Hälfte der Kızılbaş Aleviten aus Pazarcik ihre Heimat und floh nach Europa. Die meisten von ihnen gingen in die Schweiz.

Die weltweite revolutionäre Jugendbewegung der 60er Jahre spiegelte sich auch in der Türkei wieder. Die alevitische Jugend war das hauptsächliche Rückgrat der revolutionären Jugendbewegung in der Türkei. Die Feindseligkeit des türkischen Staates und die Verfolgung der Aleviten nahmen aufgrund dieser historischen Entwicklungen zu.

Ich möchte Ihnen einen Vorfall, den ich erlebt habe, erzählen. Trotz meines jungen Alters war ich sehr respektvoll gegenüber anderen Glaubensrichtungen. In der Provinz Yalova war ein Markt auf dem viele Händler ihre Waren anboten. Ich vergaß, dass wir im Monat Ramadan waren. Ein alter Mann verkaufte tesbih also Gebetsketten. An seinem Stand wollte ich mir eine solche Gebetskette kaufen, dabei hatte ich eine Zigarette in der Hand. Der alte Mann fing gleich an mich zu beleidigen, ohne dass irgendetwas vorgefallen war. Er sagte, wie ich dazu käme, im Ramadan zu rauchen. Ich entschuldigte mich und warf die Zigarette weg. Er hörte aber nicht auf mich zu beleidigen und weigerte sich, mir eine Gebetskette zu verkaufen. Mit solchen Vorfällen war ich mehrfach konfrontiert.

In den 90er Jahren wuchs die politisch-kurdische Bewegung und diese gab auch den Aleviten, die unterdrückt und zum Schweigen gebracht worden waren, Mut. Bis zu den 90er Jahren waren die Gebetshäuser Dergah und Cem verboten. In den 90er Jahren dann ließ der Staat zu, dass die Aleviten Gebetshäuser eröffnen konnten. Der Staat versuchte auf diese Weise eine Zusammenarbeit zwischen der politisch-kurdischen Bewegung und den Aleviten zu verhindern. Die Philosophie des alevitischen Glaubens ist aber, unabhängig davon, wo und gegen wen auch immer Grausamkeiten stattfinden, sich gegen diese aufzulehnen und auf der Seite der Unterdrückten zu stehen. Auch wenn man selber nicht handeln kann gebietet es der Glaube, dem Tyrannen ins Gesicht zu sagen, dass er ein Tyrann ist, und dem, der Grausamkeit erfährt, also dem Unterdrückten, zu sagen, dass man auf seiner Seite steht.

Die Türkische Republik kannte diese Philosophie der Aleviten und sah deren Umsetzung in Taten.

Das Hotel Madımak in der Provinz Sivas wurde vom Staat in Brand gesetzt. 33 Intellektuelle, Künstler, Studenten, Werktätige und ein 11-jähriges Kind wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Das war eine Botschaft des Staates an die Aleviten.

Wut und Fassungslosigkeit kam bei den Aleviten zuletzt auf, als im Jahr 2014 bei einer Beerdigung in einem Cem in Okmeydanı einem Stadtteil Istanbuls, die Polizei auf die Trauergäste schoss, einen Jugendlichen tötete und einen verletzte.

Wut und Schrecken bei den Aleviten erzeugte der jüngste Vorfall mitten in Ankara. Die 78 jährige Hatun Tuğluk starb am 14. September 2017. Gleich nach ihrer Beerdigung musste ihr Leichnam wieder aus dem Grab genommen und in ihre Heimatstadt Dersim überführt, um dort beerdigt zu werden. Hatun Tuğluk verstarb in der Hauptstadt der Türkischen Republik. Sie war eine Mutter aus Dersim, die 1978 in die Provinz Elazığ auswandern musste. Im gleichen Jahr wurde ihr Sohn unter Folter vom Staat umgebracht. Sie musste weiter wandern und kam nach Ankara. Hatun Tuğluk ist die Mutter von Aysel Tuğluk. Aysel Tuğluk ist Anwältin von Herrn A. Öcalan. Sie war in der letzten Wahlperiode Abgeordnete der HDP und stellvertretende Co-Vorsitzende der HDP. Sie ist, so wie ich auch, inhaftiert, weil sie dem kurdischen Volk angehört. Hatun Tuğluks letzter Wunsch war es, in Ankara begraben zu werden. Doch der Staat sah für sie etwas anderes vor. Während des Begräbnisses zwang ein Mob von AKP-MHP-Faschisten die Familie mit den Drohungen, die Tote aus dem Grab zu holen und zu schänden, sie selber aus dem Grab zu holen. Diesem Akt gingen stundenlange Angriffe der Faschisten auf die Trauergäste mitten in Ankara voraus, die am Ort befindliche Polizei sah diesen zu. Dieser Mob wurde regelrecht belohnt, indem ihm erst einmal vor Ort von der Polizei gezeigt wurde, dass der Leichnam wirklich ausgegraben und mitgenommen worden war. Später wurde auch ein Foto von einem der Täter zusammen mit dem Innenminister Soylu in der örtlichen Polizeiwache aufgenommen und den Medien präsentiert. T. Erdogan, der über den Vorfall informiert wurde, griff nicht ein, sondern schlug lediglich der Familie vor, es könne ein Flugzeug zum Transport des Leichnams an den für die Beerdigung der Hatun Tuğluk gewünschten Ort zur Verfügung gestellt werden. Die Täter schrien während sie angriffen, der Friedhof sei ein muslimischer Friedhof und auf diesem Friedhof könnten Aleviten nicht beerdigt werden.

Angriffe auf Friedhöfe gab es auch schon vorher. Grabsteine gefallener Guerillas, der Märtyrer, die von ihren Müttern gesetzt wurden, wurden vom Staat aus der Luft bombardiert. Der Staat sendet damit eine Botschaft an Kurden und Aleviten. Diese Botschaft ist: Auch unsere Friedhöfe werden getrennte Friedhöfe sein. Der türkische Staat verspicht den Arakan-Muslimen, die tausende Kilometer entfernt leben, Hilfe und Schutz. Aber Kurden und Aleviten, mit denen sie zusammen leben, wird nicht einmal ein Grab gegönnt. Ich verdamme auch die Grausamkeit, die die Arakan-Muslime erfahren.

Meine Mutter und mein Vater redeten, wenn ich unser Dorf verließ, auf mich ein, ich dürfe niemandem sagen, dass ich aus Dersim und Alevit sei. Die Leute aus dem Bezirk Pülümür bei Dersim sagen bis heute nicht, dass sie aus Dersim stammen. Wenn sie gefragt werden heißt es, sie seien aus der Nachbarprovinz Erzincan.

Ich weiß sehr gut, was für ein schweres Trauma es ist, ein Flüchtling zu sein. Ich sehe aber auch, wie die Flüchtlinge vom Staat benutzt werden. Die sunnitischen Kriegsflüchtlinge aus Syrien werden in der Nähe der wenigen alevitischen Siedlungsgebiete untergebracht mit dem Ziel, diese Gebiete zu sunnitisieren. Die Krimtürken werden in kurdischen Gebieten angesiedelt, um die Demografie dieser Gebiete zu verändern und gleichzeitig die Neuangekommenen an sich zu binden. Die mehrheitlich sunnitisch türkische Stadt Konya ist von der Fläche her so groß wie die Niederlande. Aber dort werden keine Flüchtlinge angesiedelt, obwohl diese Stadt ihnen zehnmal so viel Arbeitsplätze und Bildungsmöglichkeiten wie die alevitischen Bezirke Pazarcık oder die Provinz Erzincan, bietet, wo die Flüchtlinge untergebracht sind.

Wer kann mir garantieren, dass nicht als nächstes meine Eltern von solch einer Vertreibung betroffen sein werden? Wenn die Türkei so wie manche europäische Staaten Respekt vor Menschenrechten und Demokratie hätte und die Rechte von Individuen achten würde, würden weder die Aleviten noch die Kurden gegen den türkischen Staat rebellieren. Und ich wäre heute nicht hier und würde nicht vor Gericht stehen müssen. Ich hätte meine Heimat nicht verlassen. Das heißt, jede Grausamkeit erzeugt Widerstand.

Wenn mein Glaube, meine Identität mit den Füßen getreten werden, sollte sich keiner das Recht herausnehmen mir zu sagen, ich müsse im Angesicht all dessen Schweigen. Die Würde des Menschen steht über allem. Auch nach der deutschen Verfassung ist die Würde des Menschen heilig und unantastbar. Haben die Aleviten, die Kurden und andere Glaubensrichtungen und Identitäten keine Würde, haben sie nicht das Recht auf ein menschenwürdiges Leben?

Die UN spricht den Völkern ein Selbstbestimmungsrecht zu. Die Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Warum gilt dieses Recht nicht für Kurden und Aleviten in der Türkei? Dass es nicht gilt müsste doch heißen, dass das, was ich über die Kurden und Aleviten sage und schreibe, nicht wahr ist. Ich bin ein Ausländer. Ein Kurde und ein Alevit. Als solche werden wir in der Türkei nicht wie Menschen behandelt und hier sind wir mit der gleichen Behandlung konfrontiert. Für den türkischen Staat waren Kurden und Aleviten noch nie willkommen. Kurden und Aleviten ließen sich vom türkischen Staat in keine von diesem Staat erwünschte Form pressen. Dies ist auch der Grund für die Grausamkeiten dieses Staates. Dieser Staat wird in Kurden und Aleviten immer seine Feinde sehen und wird dafür immer neue Partner finden.

Mit hochachtungsvollen Grüßen

Hıdır Yıldırım“

24.09.2017